Zwei Wochen reisten wir also zu fünft um die Insel. Wenn ich unsere gemeinsame Zeit in einem Wort zusammenfassen müsste, wäre es dieses: Wasser. Von uns zugleich gesucht und verflucht, übte es eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf uns alle aus und war zugleich der größte Stimmungsdämpfer. Wir suchten nach Abkühlung von der subtropischen Schwüle Taipeis, nach Bergflüssen, die türkise Magie versprachen. Wir suchten das Meer, den friedlichen Ozean, den einige von uns noch nie gesehen hatten.
Wir fanden verdichtetes Wasser in Form von Wolken und Nebel, wir begegneten den Ausläufern eines Taifuns, der uns tagelang Wasser von oben bescherte und das Meer derart aufpeitschte, dass uns die taiwanesische Regierung selbst das Betrachten desselben aus Entfernung verbot. Wir fanden reißende Schlammströme, wo Tage zuvor die Sonne strahlend klare Wasserläufe beschienen hatte. Und nicht zuletzt fanden wir jede Menge Schweiß, erst unter der unerbittlichen Sonne der Glasglocke Taipei, dann unter den unverzichtbaren Regenponchos der Taifunsaison. Wir lernten, über die uns immer wieder begegnenden Sätze Sonst ist es hier wunderschön, wärt ihr doch nur vor zwei Tagen hier gewesen, wenn ihr doch nur dort hin könntet, wo es gerade wegen der Erdrutsche gesperrt ist zu lachen.
Ansonsten tat ich mein allerbestes, um die vier in die Vielfalt der in Taiwan vorhandenen Küchen einzuführen. Um das in knapp zwei Wochen bewerkstelligen zu können, schlemmten wir am laufenden Band. Scharfer Hotpot und scharfe Szechuan Küche, Auberginenberge, Austernomelettes, mit Algen umwickelte Reistaschen, Reisbrei mit Trockenfleischfasern, Eis aus roten Bohnen, süße Bohnensuppe, Wasserspinat mit Knoblauch, Gongbao Hähnchen, Schweineblutkuchen, Suppe mit Entenblut, Sojamilch mit und ohne frittierte Youtiao, Tofu von „stinky“ bis getrocknet, frische Muscheln und Krabben (für manch einen zum ersten Mal), jede Menge Fisch, tropisches Obst von Mangos über Pomelos bis Buddhaköpfe, und natürlich Teig- und Nudeltaschen bis zum Abwinken: Baozi, Mantou, Shuijiao, Hundun, Xiaolongbao… Die Mutigeren haben sich schließlich noch tapfer durch das Labyrinth der hier beliebten Eistee-Sorten, wahlweise auch mit Stärkebobbeln, Wackelpudding, Süßkartoffelgelee und ähnlichem darin, geschlagen.
Erst wochenlang gar kein Lebenszeichen und dann gleich zwei Beiträge kurz hintereinander, tststs. Dafür geht es in diesem Eintrag um das Vertraute anstatt um das Fremde. Keine Angst, es soll nicht mein eigener kleiner Nabel fokussiert werden. Vielmehr unser aller Nabel, oder zumindest der Nabel der allermeisten Leser dieses Blogs. Ich möchte euch mitnehmen auf eine kleine Stippvisite zu Taipeis Stammtischen und Supermärkten, auf der Suche nach einem Spiegelbild Deutschlands. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage: Was ist Deutschland, aus der Perspektive Taipeis?
Am Rande: Passt nicht so zur Shoppingtour, daher an dieser Stelle: ich habe schon viele Menschen getroffen, die davon ausgehen, dass es in Deutschland immer kalt ist. Wenn ich ihnen erzähle, dass wir im Sommer auch mal über dreißig Grad haben, ist das fast genau so ein großer Schock wie die Sache mit dem Reisessen. Oder wie wenn ich in Deutschland erzähle, dass Taiwanesen auch Brot essen und Kaffee trinken.
Laufe ich die Tage durch Taipei, ist der Geruch von Weihrauch allgegenwärtig. An jeder Ecke steht jemand an einer brennenden Metalltonne und verbrennt eine Handvoll Papiergeld nach der anderen. Auf jedem noch so kleinen Hausaltar drinnen in den Wohnzimmern sowie auf jedem noch so improvisiertem Altartisch draußen auf dem Gehweg türmen sich Berge von Obst. Abends ist es erst besonders laut, weil Festmahle mit lautstarker musikalischer Begleitung in den Gassen stattfinden, danach jedoch gespenstisch leise. Es sind weniger Menschen auf den Straßen als sonst, Fenster und Türen sind verschlossen.
Wir befinden uns zur Zeit mitten im siebten Monat des chinesischen Mondkalenders. Der siebte Monat aber ist ein besonderer: es ist der so genannte Geistermonat. In diesem Monat werden die Tore zwischen Geister- und Menschenwelt einen Spalt geöffnet – und die Geister können einen Monat lang im Reich der Lebenden verweilen. Geister sind hier wie auch bei uns unzufriedene Seelen Verstorbener. Manchmal sind Geister die Seelen gewaltvoll zu Tode gekommener Menschen, die an den Ort ihres Todes zurückkehren. Meistens aber sind Seelen hier deswegen unzufriedene Seelen, weil sie nur wenige oder sogar gar keine Angehörige haben, die sie ehren oder ihnen traditionelle Opfergaben bringen. Daher werden diesen Monat Opfergaben nicht nur an die eigenen Vorfahren oder an die eigenen Lieblingsgötter gerichtet, sondern auch an umherziehende und hungrige Seelen ohne Nachfahren – von denen es hier scheinbar eine ganze Menge gibt.
Ich persönlich bin passenderweise in diesem Monat einen persönlichen "Geist" losgeworden, der mich nunmehr ein ganzes Jahr geplagt hat, der mich vom Schlafen abgehalten und mein Leben und Denken vollkommen bestimmt hat. Noch bin ich mir im Unklaren darüber, ob die Erleichterung darüber größer ist oder die Wehmut. Eine große Leere lässt er jedenfalls zurück, dieser Geist, dieses formlose Wesen namens ICLP. Ich habe zudem ein wenig Angst, dass er das Chinesisch in meinem Hirn mit sich genommen hat... aber das wird sich zeigen müssen.
Liebe Grüße aus Taipei!
Kerstin
Die zweite (und leider auch schon letzte) Woche meiner Ferien habe ich in und um den Ort Taidong an der Ostküste Taiwans verbracht, Ort meiner Sehnsucht seit meinem letzten Besuch dort. Dieser ist schon eine ganze Weile her – ausnahmsweise weiß ich es ganz genau, denn es war zum Jahreswechsel 2000 / 2001. In meiner Erinnerung blühen meterhohe Weihnachtssterne dunkelrot vor hellblauen Bergen, erstrecken sich Reihen von Orangenbäumen auf Hügeln, die sanft dem Meer entgegen fallen. Das Wasser leuchtend türkis, die rauen Felsen am Ufer ein rauchiges schwarz, die Teeplantagen tannengrün.
Im Juni ist die Vegetation eine andere als die damalige im Dezember, aber auch diesmal hat Taidong bleibende Erinnerungen hinterlassen. Die ersten Tage habe ich in einem kleinen Hostel in den Bergen nördlich von Taidong verbracht, welches sich viel versprechend Mother Land Mountain Vacation Guest House nennt. Eine Empfehlung von Freunden, welches erst seit drei Monaten geöffnet hat. Es ist mit lediglich vier Gästezimmern ausgestattet, die alle von dem Besitzerpärchen liebevoll von Hand gestaltet und bemalt sind – selbst die Möbel sind zu großen Teilen selbst geschreinert. Aufgemacht haben es ein jungenhafter Kanadier, der hier seinen Trapper-Aussteigertraum lebt und nie ohne Messer am Gürtel und selten mit Hemd unterwegs ist, zusammen mit einer jungen Taiwanesin, deren Eltern meinen, sie sei komisch geworden seit sie mit einem Ausländer zusammen ist.
Liebe Grüße aus Taipei!
Kerstin
Inzwischen kann ich es wohl schon als Tradition bezeichnen. Jedes Mal, wenn ich mich im chinesischsprachigen Ausland aufhalte, trage ich die heimische Kultur auf kulinarische Art und Weise hinaus in die weite Welt: ich backe eine Schwarzwälderkirschtorte. Als ich (vor 10 Jahren!) das erste Mal in Taiwan war, damals in Tainan in Taiwans Süden, habe ich eine solche für meine Arbeitskollegen gebacken. Wochenlange Vorbereitungszeit, stundenlange Schweißarbeit, in wenigen Minuten aufgegessen. Als ich 2007 in Dalian, China, einen Sprachkurs besucht habe, hatte meine Sprachaustauschpartnerin nur einen sehnlichen Wunsch: dass ich ihr zeige, wie man eine echte Torte aus dem Schwarzwald backt. Mangels Küche saßen wir auf dem Boden und wechselten uns ab mit dem Rührbesen beim Teig- und Sahneschlagen. Hier in Taipei habe ich die Reihe nun fortgesetzt. Eine Freundin einer meiner Lehrerinnen hat ein kleines Geschäft mit dem schönen Namen Flügel, in welchem sie deutsche Kuchen verkauft. Mit ihr und einigen ihrer Freundinnen bzw. Kolleginnen habe ich nun meine dritte Schwarzwäldertorte im fernen Osten gebacken. Obwohl ich dieses Mal so gut ausgestattet war wie noch nie (wir hatten sowohl eine Waage als auch ein Rührgerät!) ist es die mit Abstand hässlichste Torte geworden, die ich je gebacken habe... Lecker war sie wenigstens.
In den nächsten Tagen habe ich vor, ein wenig durch Taiwan zu reisen, ich hoffe also, es gibt bald wieder etwas zu Berichten. Bis dahin liebe Grüße aus Taipei!
Kerstin
Am Rande: Politiker hier scheinen wesentlich emotionaler als anderswo… Nicht zum ersten Mal hat Ende April eine Debatte im Parlament zu Handgreiflichkeiten unter den Abgeordneten geführt. Diese Mal gab es mehrere Verletzte und eine Ohnmächtige. Das Thema diese Mal: sollen Studenten vom chinesischen Festland an taiwanesischen Universitäten zugelassen werden?
Ansonsten habe ich letzte Woche nicht nur meine Midterm-Prüfungen, sondern auch noch das chinesische Äquivalent zum englischen TOEFL-Test (also einen standardisierten Sprachtest) hinter mich gebraucht und bin dementsprechend erschöpft. Das dritte Quartal im intensivst-Intensivkurs hier zehrt an mir. Die Krankheitsquote unter meinen Kommilitonen steigt exponentiell. Auch ich bin jetzt erst, drei Wochen nachdem ich krank geworden bin, so langsam wieder gesundheitlich auf der Höhe. Ein typischer Tag aus der letzten Woche: 6 Uhr aufstehen, letzte Hausaufgaben machen, wiederholen. 8-12 Uhr: 4 mal hintereinander Intensivkurs, das heißt 4 Lehrer, 4 Lehrbücher. 12-13 Uhr: Vortrag im Sprachzentrum auf Chinesisch, nebenher Verzehren eines von der Schule gestellten Mittagessens. 13-23 Uhr Hausaufgaben, Lernen in einem Café oder der Bibliothek. Dazwischen kurze Abendessenspause. Nach Hause, Wäsche waschen, Aufräumen, ähnliches. Zwischen 24 und 1 Uhr ins Bett. Oder auch noch mal wiederholen. Und wieder von vorne.
Da ich unter derartigen Umständen nicht besonders viel berichtenswertes erleben konnte, werde ich stattdessen versuchen, eine Frage zu beantworten, die sich nach Lektüre des obigen Absatzes aufdrängen mag, bzw. die mir auch schon mehrfach gestellt wurde: WARUM?? Warum tust du dir das an? Und auch: warum ist das nötig, du lernst doch schon so lange?
Ich werde mit der zweiten Frage beginnen:
Was das Chinesischlernen so schwierig macht:
1. Die vollkommene Andersartigkeit der Sprache
Jemand der bisher noch nie eine außereuropäische Sprache gelernt hat, kann sich häufig nicht vorstellen, wie verschieden menschliche Sprachen sein können. Beim Lernen des Chinesischen geht das von den für uns nicht intuitiven aber bedeutungsunterscheidenden Tönen der Wörter über eine völlig andersartige grammatischen Struktur bis hin zu einer für uns fremden Logik im Aufbau von Texten. Selbst der Wortschatz stellt ein größeres Hindernis als bei vielen anderen Sprachen dar. Dieser ist nicht nur extrem groß, sondern auch extrem fremd, das heißt: wirklich jedes Wort muss erlernt werden. Es gibt so gut wie kein Wort, das man schon aus der eigenen Sprache kennt, keines, dessen Bedeutung man erahnen kann, weil man so was ähnliches schon einmal in einer anderen Sprache gelernt hat. Das mag auf den ersten Blick nicht dramatisch klingen, daher ein Beispiel zur Erläuterung:
Nach zwei Semestern Russisch mit lediglich vier (wenn auch intensiven) Stunden Unterricht pro Woche konnte ich (mit Lexikon natürlich und sehr langsam aber immerhin) einigermaßen gut normale Texte lesen. Klausurinhalt waren beispielsweise Texte Lenins zur Maisproduktion. Das liegt nicht daran, dass ich besonders toll bin, sondern daran, dass das Russische wie die meisten anderen Sprachen auch sehr viele Begriffe der Moderne mit dem Deutschen teilt. Im Chinesischen ist das leider sehr selten der Fall. Weshalb man nach einem Jahr Chinesisch mit 4 Stunden die Woche auch noch nicht besonders viel kann.
Selbst die ganzen –ismen, die auch hier im Diskurs häufig sind, müssen neu erlernt werden, von Kapitalismus (Russisch kapitalism, Chinesisch zibenzhuyi, über Kommunismus (Russisch kommunism, Chinesisch gongchanzhuyi) bis hin zu Utilitarismus (Russisch utilitarism, Chinesisch gonglizhuyu). Allerhöchstens noch westliche Genussmittel lassen sich direkt übersetzen, so heißt ein Cappuccino auch auf Chinesisch kabuqinuo. Selbst westliche Namen sind allerdings meist so stark eingechinesischt, dass man sie nicht unbedingt wieder erkennt. So sind weder Kang de, Mei ke er noch Shi wei yin shi tai ge unmittelbar als Kant, Merkel oder Schweinsteiger zu erkennen...
2. Die Schrift
Chinesisch ist also schwer und das Lernen mühevoll. Wozu also das Ganze?
Warum ich das Chinesische so liebe:
1. Die vollkommene Andersartigkeit der Sprache
Eine neue Sprache zu lernen, eröffnet immer eine neue Welt. Wie viel aufregender aber ist diese Welt, wenn die Sprache die man lernt, einer völlig anderen Logik als die der eigenen Sprache folgt? Aus einer ganz anderen Tradition stammt? Ich spüre jeden Tag meine Gehirnzellen neue Verbindungen knüpfen, fleißig dabei, neue Pfade für meine Gedanken zu bauen und alte Hindernisse einzureißen.
2. Die Schrift
So schwer es auch sein mag, sie zu erlernen – allein schon aus ästhetischen Gründen lohnt sich. der Aufwand. Hinter jedem einzelnen Schriftzeichen stehen zudem Jahrhunderte, Jahrtausende an Bedeutung. Ein ganzes philosophisches Gebäude kann in einem einzigen Zeichen verkörpert werden. Chinesische Kalligraphie als Verbindung zwischen Kunst und Philosophie versinnbildlicht dies auf wunderbare Weise. Wenn ich dabei bin, Texte von Konfuzius und Zeitgenossen zu entschlüsseln, in denen jedes Zeichen eine weite Bandbreite an Bedeutung mit sich trägt, reisen meine Gedanken mit den Schriftzeichen weit in die Vergangenheit. Zusätzlich haben die Schriftzeichen auch einen Beigeschmack von visuellem Puzzlespiel, zumindest für mich Ausländerin, und machen daher einfach Spaß. Zusätzlicher Pluspunkt: da die Schriftzeichen unabhängig von Aussprache auch eine Bedeutung in sich tragen, sind Chinesische Texte über Dialektgrenzen hinweg verständlich – was gerade im dialekt- und sprachreichen China sehr praktisch ist. Und nicht nur das: auch Sprachgrenzen können durchbrochen werden. So besteht zum Beispiel die japanische Schrift aus einer Mischung zweier japanischer Alphabete plus einer Auswahl an chinesischen Schriftzeichen. Obwohl das Japanische eine völlig andere Sprache als das Chinesische ist, kann ich einem geschriebenen japanischen Text anhand der Schriftzeichen oft entnehmen, worum es ganz grob geht.
3. Die Redewendungen
So anstrengend das Lernen der ganzen Chengyu auch sein mag, sie bereichern die Sprache unglaublich. Mit lediglich vier, dazu haeufig noch nach Wohlklang zusammengestellten, Silben kann man einen ganzen Berg an Bedeutung vemritteln. Das Spielen mit Chengyu gibt der Ausdrucksfaehigkeit Tiefe. Und nein, sie machen die Sprache nicht steif, gerade das Spielen mit Ihnen, das Austauschen eines einzelnen Zeichens, das absichtliche Verwenden im falschen Kontext, erlaubt jede Menge Sprachwitz. Gerade wo ich zur Zeit dabei bin, das klassische Chinesisch zu lernen, beeindruckt mich die Schwere der Jahrhunderte bzw. Jahrtausende, die hinter den Begriffen steht. Gerade eben habe ich ein Sprichwort in einem Text entdeckt, das unmittelbar aus einer Konfuzius Rede stammt, die von dessen Schülern vor weit über 2000 Jahren aufgezeichnet wurde und die wir heute morgen im Unterricht gelesen haben (Welches n.b. soviel bedeutet wie: wenn drei Menschen zusammen sind, kann ich von mindestens einem der anderen beiden etwas lernen.). Für die Lateiner unter euch mag das nach altem Hut klingen, mich beeindruckt aber nicht nur die Geschichte, sondern vor allem die Lebendigkeit dieser Tradition. Und dass beispielsweise ein Konfuzius Text nicht nur über Jahrtausende, sondern auch über Kulturgrenzen hinweg verständlich sein kann, gibt dem Lernen zusätzliche Motivation.
Natürlich, hinter einer Sprache steht auch immer eine Kultur. Meine Begeisterung für dieselbe habe ich aber denke ich in den vergangenen Einträgen oder in persönlichen Gesprächen schon zu Genüge kund getan… Ich freue mich bei jedem gelernten Wort, dass sich mir nun ein weiterer kleiner Teil dieses riesigen Kulturraums erschließt.
Zur Feier des halben Quartals und der überstandenen Prüfungen sind wir letzten Sonntag auf einen dreitägigen Uni-Ausflug ins Herz Taiwans gereist, wo der Geburtstags Mazus, der Schutzpatronin Taiwans, gefeiert wurde. Darüber berichte ich in Bälde! Der nächste Eintrag wird also wieder ein Erlebnisbericht wie gehabt, keine Sorge
Liebe Grüße in die Welt!
Kerstin
PS Kleines Gesundheitsupdate für die, die sich sorgen: Nach der Ohnmacht aus dem letzten Eintrag geht es mir wieder gut. Ich war eine gute Woche außer Gefecht, aber nach diversen Arztbesuchen mit Blutuntersuchung, EKG, EEG, sowie Hals-Ultraschall steht fest: es war wohl nichts weiter Dramatisches und bleibende Schäden außer zwei angeknacksten Zähnen gibt es nicht.
Es ist, als hätte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben so richtig geprügelt. Ich habe eine dicke, sich langsam blau verfärbende Lippe, schmerzende Zähne und eine Nase, die auf Berührungen ungnädig reagiert. Mein Nacken ist steif und schmerzt ebenfalls. Auch der Beginn dieses Zustands hatte ein wenig was von Boxring. Zumindest so, wie ich mir diesen vorstelle. Ich wachte aus einem tiefen Traum auf, weil mich jemand an der Schulter schüttelte. Ziemlich verwirrt stellte ich fest, dass ich auf dem Boden lag, über mir grelles Licht sowie an die 20 Menschen, die um mich herum standen und mich mit großen Augen anstarrten. Im Gesicht hatte ich ein blutiges Tuch. Und ja, da war auch irgendwas von Boxen…
Allerdings nur Schattenboxen, was mit ersterem herzlich wenig zu tun hat. Mitten in meinem Tai-Chi-Kurs bin ich ohnmächtig geworden und platsch – mit dem Gesicht voran auf den Holzboden geknallt… Welcher Schatten auch immer mir diesen Schlag versetzt hat, er hat unfair gekämpft, denn der Kampf war noch nicht angepfiffen. Wir waren gerade mal bei der ersten Aufwärm- bzw. Entspannungsübung angekommen. Ich kann euch beruhigen – mir geht es gut und ich war natürlich auch beim Arzt, der nichts Schwerwiegendes feststellen konnte und insgesamt nicht besonders beunruhigt schien. Daher werde ich das Ganze einfach als Gelegenheit ansehen, euch zu erzählen, wie es so in einem taiwanesischen Krankenhaus zugeht.
Montagmorgen bin ich mit dem Taxi ins Uni-Krankenhaus der Taida gefahren. Dort reihten wir uns in eine lange Reihe anderer Taxis ein, die einer nach dem anderen ihre Fahrgäste abluden. In der hohen und laut hallenden weil menschenüberfüllten Empfangshalle kam ich mir ziemlich verloren vor... bis ich eine Leuchtboje im Menschenmeer entdeckte. In vielen öffentlichen Institutionen in Taipei arbeiten freiwillige Helfer, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als verwirrten Menschen den Weg zu weisen. Diese Helfer tragen meist neongelbe Verkehrswesten und sind daher schon von weitem zu erkennen. So eine Helferin führte mich also durch die ersten Schritte. Als erstes, wie wohl überall auf der Welt, musste ein Formular ausgefüllt werden. Kontaktdaten, Vorgeschichte, Einverständniserklärung in die Behandlung etc. Des Weiteren bekam ich die Regeln des Krankenhauses ausgehändigt. Alle Patienten werden gleich behandelt, ich muss für die Kosten meiner Behandlung aufkommen, meine Daten sind sicher… und von unangebrachten Verhaltensweisen ist abzusehen. „Such improper behaviors include smoking, eating betel nuts and consuming / possessing durian fruits.” Letztere riechen so stark, dass sie den eh schon geschwächten Patienten wohl nicht zuzumuten sind.
Als nächstes: Nummer ziehen für den Anmeldeschalter. Warten. Anmelden. Für welche der 24 Abteilungen denn? Ich schildere meine Umstände. Neurologie also. Da sind heute Vormittag keine Termine mehr frei, kommen sie einfach heute Nachmittag wieder. Ich erkläre, dass es mir nicht besonders gut gehe, ob es nicht vielleicht in einer anderen Abteilung…? Na gut, sie kann mir in der Chirurgie einen Termin geben. Die können Sie auch behandeln. Ich bekomme eine neue Nummer, diesmal für die Chirurgie. Praxis Nr. 13 in der Chirurgie Abteilung. Nach längerem Durchfragen finde ich den richtigen Ort. Über der Tür prangt, wie über fast allen Türen an denen ich vorbei gekommen bin, eine Digitalanzeige mit roten Zahlen wie im Amt. Ich nehme auf einem der davorstehenden Plastiktühle inmitten vieler anderer Wartenden Platz und... warte. Und warte. Insgesamt über vier Stunden lang. Endlich ist meine Nummer an der Reihe und ich darf das Arztzimmer betreten. Arzt und Krankenschwester sind nett, wir unterhalten uns fröhlich auf Chinglisch. Sie untersuchen mich, soweit alles in Ordnung. Zur Sicherheit bekomme ich eine Überweisung für weitere Untersuchungen.
Zunächst aber muss ich zur Rechnungsabteilung und die Rechnung, die mir der Arzt gegeben hat, sofort begleichen. Eine Nummer ziehen. Warten. An einem von sehr vielen Schaltern bezahlen. Da ich Mitglied der staatlichen Gesundheitskasse bin, muss ich nur einen Zuschuss von etwas weniger als 10 Euro bezahlen. Zum Glück habe ich keine Medikamente verschrieben bekommen, sonst müsste ich zur Apothekenabteilung, eine Nummer ziehen und… So aber kann ich direkt weiter in die Kardiologie. Zum Glück finde ich wieder eine freiwillige Helferin, die mir nicht nur den Weg weist, sondern mir auch zeigt, in welchen Schlitz ich meine Anmeldung zum EKG einwerfen muss und wo ich warten kann, bis ich dran bin. Hier ist die Wartezeit zum Glück nicht so lang und auch die Untersuchung selbst ist in einem Augenblick vorbei. Danach geht’s weiter zur Blutabnahmestation. Nummer ziehen. Warten. Hier reiht sich ein Schalter neben den anderen, über jedem die obligatorische Digitalanzeige, auf jedem Tisch neben diversen medizinischen Utensilien jeweils ein schwarzes Plastikkissen zum Armauflegen. Hier sitzen bald 20 Arzthelferinnen nebeneinander, die scheinbar den ganzen Tag nichts anderes machen als Blutabnehmen. Dementsprechend schnell geht das Ganze dann auch, wenn man erst mal dran ist. An der Wand hängt ein riesiges Schild, dass alle Patienten darauf hinweist, dass sie auch wirklich 5 Minuten lang auf die Einstichwunde drücken sollen. Ein bisschen froh, dass ich keine Urinprobe oder ähnliches abgeben muss, bin ich an dieser Stelle schon. Dann darf ich auch schon, einen halben Tag später, wieder nach Hause. Nächste und übernächste Woche werden vorsorglich noch Hals und Hirn untersucht, da darf ich mich also noch mal ins Getümmel stürzen.
Dieselbe Art der effizienten Betriebsamkeit herrscht übrigens im Gesundheitsamt (wo ich meinen Versicherungsausweis beantragen musste). Zum Glück gibt es auch dort die „gelben Engel“. In einem von vielen, vielen ähnlichen Räumen reihen sich vierzig (!) Schalter aneinander, die eigentlich auch keine Schalter sind, sondern nur Abschnitte eines extrem langen Tisches mit Digitalanzeigen drüber. Dahinter die vorwiegend weiblichen Angestellten, alle in Uniform, alle mit Mundschutz, der den größten Teil ihres Gesichts verdeckt. Trotz aller augenscheinlicher Anonymität - so was wie Privatsphäre ist da nicht – links von mir wurde die Arbeitslosigkeit des Sohnes, rechts von mir die chronische Krankheit der Antragsstellerin verhandelt…
Liebe Grüße und bis bald (und macht euch keine Sorgen, mir geht es gut)!
Kerstin
Am Rande: Mein neuer Lieblingsbegriff aus einem Aufsatz zur Frauenbewegung: Yi bei shui zhu yi, wörtlich übersetzt: ein-Becher-Wasser-ismus. Kritischer (und hochsprachlicher!) Terminus, der übertragen heißt: Wenn die Beziehungen zwischen Männlein und Weiblein sich so gestalten wie beim Wassertrinken, sprich: man jedes Mal zum Durstlöschen einen anderen Becher benutzt.
Auch wenn dies kerstininTAIWAN.de ist, werde ich euch heute von einer anderen (wenn auch nicht geographischen so doch defacto) Insel erzählen. Im Grunde werde ich das eine Eiland jedoch nur im Lichte meiner Erfahrungen auf dem anderen beschreiben können, womit dieser Bericht hier doch an genau der richtigen Stelle ist. Wie bereits im letzten Beitrag erwähnt, wollte ich meine eine, kostbare Ferienwoche ursprünglich damit verbringen, zusammen mit einem Kommilitonen den höchsten Berg Taiwans zu besteigen. Als unsere Wanderpläne kurzfristig ins, äh, Eis, fielen, haben wir uns aufgrund der momentan extrem günstigen Flugsituation spontan für ein anderes Extrem entschieden - und sind am darauf folgenden Tag in die Metropole und Megastadt Seoul geflogen.
Unsere Woche in Seoul haben wir ruhig angehen lassen (schließlich mussten wir uns beide nebenbei von einem erschöpfenden Semester erholen), dennoch haben wir so einiges von der Stadt gesehen: alte (oder zumindest wiederaufgebaute) und weitläufige Paläste inmitten hypermoderner Hochhäuser, jahrtausende alte Kunst im Nationalmuseum, das rezente Pendant im Museum der modernen Künste, viele alte und neue Einkaufsstraßen sowie ein sehr schönes Aquarium mit unter anderem riesigen Haien und Rochen (und warum auch immer Goldfischen in Kloschüsseln). Wir sind in gut 4 Stunden auf den Hausberg Seouls Bukhansan gestiegen, der obwohl er nicht einmal 1000m hoch ist, so einiges an Kraft verzehrt. Zu guter letzt ist er sogar so steil, dass man nur mit Hilfe von Stahlseilen weiter kommt. Davon erholt haben wir uns in einem der berühmten koreanischen Badehäusern – dieses ein siebenstöckiges Exemplar bestückt mit diversen Pools, Saunen sowie einer ansehnlichen (Video-)Spielhalle inklusive Karaokeautomaten. Vor allem aber haben wir einem Hobby gefrönt, das wir mit den Taiwanesen und Koreanern gemeinsam zu haben scheinen: wir haben gegessen. Koreanisches Barbecue mit zigtausend verschiedenen Zutaten, die gemeinsam in Salatblätter gewickelt werden, Fisch mit beeindruckenden Zähnen, Berge an Kimchi (der scharfen koreanischen Version von Sauerkraut), ein edel benanntes Hochzeitsmahl mit unzählbar vielen Gängen, davon einer leckerer als der andere, frischen Aal, viel knackig-rohes Gemüse, wie es mir in Taiwan fehlt, koreanisches Sushi und (ich traue mich fast nicht, es zu schreiben, es war auch nur bedingt freiwillig) Hundesuppe.
So ist es insgesamt vielleicht auch kein Wunder, dass Thomas sich in den letzten Tagen unserer Reise den torkelnden Einheimischen (siehe unten) anschloss und sich am Straßenrand übergab. Allerdings ohne Alkoholeinfluss, stattdessen mit einer handfesten Lebensmittelvergiftung, die nicht nur unserer kulinarischen Entdeckungslust ein verfrühtes Ende setzte.
Stellvertretend für alle Ausflüge möchte ich an dieser Stelle von einem berichten, der mich stark beeindruckt hat: unser Ausflug in die DMZ, den demilitarisierten Grenzbereich zwischen Nord- und Südkorea. Dieser Streifen, auf beiden Seiten der Grenze je zwei Kilometer breit, ist eine Mischung aus Naturschutzgebiet und Geschichtslehrstätte, aus viel besuchter Touristenattraktion und aktiver Armeebasis (demilitarisiert heißt scheinbar weder soldaten- noch waffenfrei). Wilde Blumen und Stacheldraht, US-Soldaten inmitten kamerabewehrter Besucher. Eine Stimmung, die irgendwo zwischen Volksfest und Trauerfeier schwankt. An einer Stelle kann man einen guten Blick auf ein nordkoreanisches Dorf werfen. Auf der Südkoreanischen Seite steht daher ein Beobachtungsposten: ein Armeeposten zuzüglich einer sehr langen Reihe an Münzferngläsern. Die Hauptarbeit der Soldaten scheint darin zu bestehen, Touristen vom Fotografieren Nordkoreas abzuhalten – oder falls sie es nicht rechtzeitig verhindern konnten, die entsprechenden Bilder mit strenger Miene zu löschen. Touristen kommen aus aller Welt hierher – bis auf aus Südkorea selbst, da Einheimische die DMZ nicht betreten dürfen.
Außer einer gigantischen nordkoreanischen Flagge und einer ebensolchen Statue ist der nordkoreanische Ort unauffällig. Ins Auge sticht eher die Tatsache, dass das Land jenseits der Grenze gelb ist, einer wasserfreien Steppe gleich, was besonders im Vergleich mit der üppigen Vegetation Südkoreas auffällt. Armut zwingt die Bauern im Norden, jedes auch noch so kleine Gewächs zu verheizen.
Besucht haben wir des Weiteren einen von mehreren Tunneln, der von nordkoreanischen Arbeitern in jahrelanger Arbeit aus dem Granit gearbeitet wurde, um Südkorea mit einer Armee überfallen zu können, die scheinbar plötzlich aus dem Nichts kommt. Bisher wurden vier Tunnel entdeckt, übrigens in einem Gebiet ohne Kohlevorkommen komplett mit Kohlestaub bedeckt (sind alles nur Bergbautunnel, wirklich!). Wie viele unentdeckte Tunnel es gibt, weiß wohl nur Kim Jong-il.
Noch gespenstischer als diesen Tunnel fand ich den Bahnhof Dorasan. Der letzte Bahnhof im Süden vor der Grenze wurde 2003 komplett neu gebaut. Ein glänzender, hochmoderner Bahnhof, der als Bahnhofsprototyp herhalten könnte, wenn… ja wenn nur Züge dort verkehren würden. Seit einem halben Jahrhundert kommen hier weder Züge an, noch verlassen welche den Bahnhof. Und welche Hoffnung auch immer die südkoreanische Regierung 2003 getrieben hat – noch hat sie sich nicht erfüllt. Der Schalter der Inter-Korean Transit Office ist jedenfalls schon einmal vorsorglich besetzt.
Abgesehen von Sehenswürdigkeiten – wie war Seoul? Aufgrund praktisch nicht vorhandener Vorbereitungszeit hatten wir beide nicht viel mehr als eine sehr grobe Vorstellung von unserem Zielort. Ich für meinen Teil hatte ziemlichen Respekt vor diesem Moloch mit über 10 Millionen Einwohnern. Ich habe mir eine ungezähmte, lautgrelle und hypermoderne Stadt vorgestellt, jederzeit bereit, unvorsichtige Besucher zu verschlingen. Die Tatsache, dass der Lonely Planet, den wir im Flugzeug konsultieren konnten (und nur dort weil ihn Thomas dann im Airportbus liegen lies), Blade Runner ansprach, half dieser Vorstellung erst Recht auf die Sprünge.Umso mehr hat mich Seoul daher überrascht, in gewisser Hinsicht sogar enttäuscht.
Seoul ist erstens sehr viel weitläufiger und weniger eng als erwartet. Vor allem im Vergleich zu Taipei fiel mir zunächst eines auf: Stille. Die Straßen waren nicht besonders voll und selbst wenn, scheinen Koreaner in der Öffentlichkeit eher schweigsam. Des Öfteren saßen Thomas und ich mit 50 Einheimischen in der U-Bahn und keiner sprach auch nur ein Wort. Ein wenig unheimlich. Jeder zweite hatte stattdessen ein Mobilgerät und spielte entweder Egoshooter oder schaute – dank Miniantenne – koreanische Seifenopern. Die Stille ließ meinen Gedanken viel Raum, die allgegenwärtigen Anzugträger in graue Herren zu verwandeln. Dies scheint besonders in Verbindung mit der hohen Geschwindigkeit der Stadt zutreffend (plötzlich liefen Passanten gleich schnell wie ich oder gar noch schneller – eine Unmöglichkeit in Taipei). Leider nur gibt es in Seoul keine Momo und die einzige Schildkröte, die ich gesehen habe, lebte im Aquarium und hatte zwei Köpfe.
Neben leise sind die Südkoreaner auf den ersten Blick vor allem eines: betrunken. Am ersten Abend liefen uns auf unserem Nachhauseweg so viele Betrunkene über den Weg, dass wir uns erst einmal ziemliche Sorgen machten über den Stadtteil, in dem wir gelandet waren. Im Rückblick fiel uns dies wohl erst so richtig im Vergleich mit Taipei auf – in dem es außer vielleicht in den Nachtclubs in der Öffentlichkeit keine Betrunkenen gibt. Und keine Penner. Oder Punks. Oder. All dies gab es in Seoul plötzlich (wieder), was für uns erst einmal ein Schock war. In Seoul kann man sich Verbrechen und Gewalttaten zumindest vorstellen, ein großstädtischer aggressiver Unterton ist zumindest zu erahnen.
Jedenfalls klärte uns einer der beiden unglaublich netten Mitarbeiter unseres familiären Hostels (mit demwir im Übrigen in den folgenden Tagen noch die ein oder andere Dose koreanisches Bier sowiedie eine oder andere Flasche Soju, dem koreanischen Nationalschnaps, leerten)auf: Alkohol sei ein integraler Bestandteil der koreanischen Kultur. Und die schwankenden Männer im Viertel seien mitnichten verlorene Seelen sondern hart arbeitende Geschäftsmänner. Kein wirkliches Gespräch, keine wirklich wichtige Abmachung unter Geschäftspartnern finde statt, ohne dass die Partner ihre Trinkfestigkeit unter Beweis stellten. Deswegen über er auch immer so fleißig mit seinen Gästen, für später.
Neben leise und betrunken sind Südkoreaner auf den ersten Blick noch eines: extrem gut aussehend. Selten habe ich so viele attraktive wie gut angezogene Männer und Frauen auf einen Haufen gesehen. Die Koreaner scheinen noch mehr als die Taiwanesen (eine Steigerung, die ich nicht für möglich gehalten hatte) das Einkaufen zu vergöttern. In Dongdaemun, einem (von sehr vielen) Einkaufsvierteln Seouls stehen da mal eben schnell 30 mehrstöckige Shoppingcenter nebeneinander. Teilweise rund um die Uhr geöffnet. Und dazwischen breitet sich der Straßenmarkt aus. Neben Japan sind die Koreaner die Trendsetter Asiens was Mode, aber auch Musik und Fernsehserien angeht. Fast alles, was mir in Taiwan an Mode gefällt kommt aus Korea. Für Schminkprodukte gilt, habe ich mir sagen lassen, dasselbe. Kann ich mir auch gut vorstellen, da die Lieblingsbeschäftigung in der Seouler U-Bahn neben Fernsehen und Zocken das Schminken zu sein scheint. Dass so viel Wert auf das Äußere gelegt wird, hat allerdings auch seinen Preis. Dünnheit ist ein Muss und man munkelt, Essstörungen seien gang und gäbe. Dunkin Donuts hat in Seoul jedenfalls all seine Produkte mit dicken Kalorienangaben bedruckt. Und selten habe ich so viele Frauen mit Strichbeinen auf einmal gesehen. Laut einer (nach eigenen Angaben konservativen) Schätzung der BBC haben die Hälfte (!) der südkoreanischen Frauen zwischen 20 und 30 schon eine oder mehrere Schönheits-OPs hinter sich. Am häufigsten ist das operative Hinzufügen einer Augenlidfalte, um ein doppeltes Augenlid (wie wir Westler es haben) zu erzeugen. Damit wird das Auge größer – und eben westlicher. Diese OP ist auch in Taiwan extrem beliebt, noch vor der ebenfalls beliebten Vergrößerung asiatischer Nasen. Für Taiwan habe ich jedoch keine konkreten Zahlen.
Seouler in der Öffentlichkeit sind also leise, betrunken und attraktiv. Seltsamerweise fühlte ich mich in dieser Umgebung schnell heimisch. Obwohl ich keine Schilder lesen konnte (das koreanische Alphabet hatte ich erst am Ende der Reise so einigermaßen im Kopf und das alleine hilft auch nur bei wenigen internationalen Begriffen, wie z.B. Cappuccino) und mich leider mit den wenigsten Menschen unterhalten konnte (in Korea sprechen sehr viel weniger Menschen Englisch als in Taiwan), fühlte ich mich an öffentlichen Orten paradoxerweise sehr viel weniger fremd als in Taiwan. Hier in Taipei fühle ich mich zwar wohl und zu Hause, bin mir meiner Fremdheit aber ständig bewusst. Seoul dagegen ist eine saubere und moderne Stadt voll glänzender Eleganz, westlicher Ketten und anonymer Großstädter wie sie einem auch in New York begegnen könnten. Das hat einerseits was angenehmes (keiner starrt einen an, alle benehmen sich ähnlich wie man selbst (Stichwort Habitus)), andererseits auch etwas abweisend Steriles. Noch bin ich mir nicht sicher, ob mir diese Stadt gefällt. (Ironisch finde ich nebenbei bemerkt, dass weder ich noch einer meiner Mitstudenten trotz regelmäßigem Verzehr von am Straßenrand gekauften Produkten in dem alles andere als sterilem Taipei jemals Vergiftungserscheinungen zeigte.)
Seoul hin oder her – die Menschen in Seoul gefallen mir sehr. Selbstverständlich haben nämlich auch diese mehr als eine Oberfläche. Von dem, was darunter liegt, habe ich nur einen ersten Eindruck bekommen, bin aber gespannt auf mehr. Auch wenn sie anfangs vor allem im Vergleich zu den Menschen in Taiwan sehr kühl und abweisend scheinen, sind sie auf den zweiten Blick unglaublich warmherzig und hilfsbereit. Ein Beispiel, das für viele unerzählte stehen soll: eine junge Mutter, mit der ich praktisch nur in Gesten kommunizieren konnte, nahm für mich, nachdem ich sie nach dem Weg gefragt hatte, einen weiten Umweg auf sich. Den letzten Teil des Wegs legte sie rennend zurück, ließ dabei beinahe ihren Kleinsten zurück, der mit ihr und seinem älteren Bruder nicht mithalten konnte. Hektisch kaufte sie mir zuletzt eine Tramkarte - nur um sicherzustellen, dass ich noch rechtzeitig vor Torschluss ins Kunstmuseum komme. Und das alles mit einem Lächeln.
Seoul erschien mir insgesamt zugleich wilder und geordneter, gröber und raffinierter, kälter und heimischer als Taipei, so ganz fassen kann ich die Stadt noch nicht. Insgesamt hat mir Korea sehr gut gefallen, eines Tages möchte ich auf jeden Fall wiederkehren, um Seoul genauer fassen zu können und vor allem um auch das Land jenseits der Metropole kennen zu lernen.
Kerstin
Was wir von den Koreanern lernen sollten: Badehäuser in koreanischen Dimensionen zu koreanischen Preisen - Spielhallen mit Karaokekabinen - Fußbodenheizungen in Hostels wie Restaurants - das auf dem Boden Sitzen in selbigen - Liebe zum Essen - mindestens 5 verschiedene Beilagenteller selbst in günstigsten Fastfoodrestaurants zu servieren – beheizte U-Bahn- und Klositze – herzerwärmende Freundlichkeit gegenüber verwirrten Ausländern
Am Rande: Die Welt ist einfach klein. Eines Abends saß ich im Hostel und habe mit Thomas, dem Texaner, Sam, dem koreanischen Hostelmitarbeiter, sowie einem anderen Gast aus Hongkong Fußball geschaut, Manchester gegen Liverpool. Nach einigen Dosen koreanischen Biers, gegen später, weil man das in Korea so macht, gemischt mit dem koreanischen Nationalgetränk Soju, kamen wir auf die Weltmeisterschaft 2006 zu sprechen. Und haben festgestellt, dass nicht nur ich sondern sowohl Thomas als auch Sam, obwohl sie sonst wenig mit Deutschland am Hut haben, die WM in Freiburg erlebt haben. In FREIBURG, ausgerechnet. Der Hongkonger war immerhin schon einmal dort gewesen.
Es ist Halbzeit. Vor knapp sechs Monaten bin ich in einer unüberschaubar großen, chaotischen und vor allem fremden Stadt angekommen. Inzwischen ist mein Taipei nicht nur geschrumpft und zumindest etwas geordnet, sondern zu einer Heimat geworden. Ich fühle mich wohl in dieser Stadt, in diesem Land. Taipei ist eine bunte und lebendige Stadt, ständig in Bewegung, gleichzeitig fühle ich mich hier so sicher als wäre ich in einer süddeutschen Kleinstadt. Vielleicht sogar sicherer. Außer aufgrund wild kurvender Taxis oder Mopeds auf der Straße kenne ich kein Gefühl der Mulmigkeit, fühle mich zu jeder Tages- und Nachtzeit gut aufgehoben.
Wenn ich einen Taiwanesen frage, was an Taiwan und vor allem Taipei besonders toll sei, bekomme ich gut wie immer als eine der ersten Antworten, Taiwan sei so fangbian, so praktisch. Vor einem halben Jahr fand ich das eine ziemlich unromantische Beschreibung. Es klang für mich ein bisschen danach, als würde meinen Gesprächspartnern kein so richtig positives Adjektiv einfallen. Inzwischen ahne ich jedoch die wahre Relevanz von fangbian. An jeder Ecke drängen sich kleine Restaurants und Stände, die Köstlichkeiten aller Art verkaufen. Ich brauche nur aus meiner Haustür stolpern und habe sofort eine breite und günstige Auswahl an frisch zubereiteten Köstlichkeiten. An jeder Ecke steht ein 7-11, eine moderne Art Tante-Emma-Laden mit erweitertem Tankstellenshop-Sortiment. Diese Läden sind 24 Stunden lang geöffnet und häufig in Sichtweite voneinander.
Nicht nur 7-11-Läden sind jedoch rund um die Uhr offen, sondern auch manche Supermärkte, wie zum Beispiel der direkt unten neben meinem Hauseingang. Außerdem verschiedene Restaurants, in der ganzen Stadt verteilt – bei weitem nicht nur MacDo und co. Die Kneipe gegenüber von meinem Haus, in der man auch kickern oder lecker Nachos essen kann. Selbst der größte Buchladen der Stadt, der auf sieben labyrinthenen Etagen zum stundenlangen Schmökern einlädt (auch auf Englisch oder sogar Deutsch), schließt seine Türen nie.
Will ich der Schlaflosigkeit und Betonhaltigkeit der Stadt für eine Weile entfliehen, setzte ich mich in die U-Bahn oder einen Stadtbus und fahre in weniger als einer Stunde an den Meereshafen in Danshui, in die Berge des Yangmingshans-Nationalparks oder zu den heißen Quellen und türkisfarbenen Bergflüssen in Wulai. Will ich noch weiter weg, gehe ich zu einer der vielen Fernbusfirmen und steige in den nächsten Fernbus. Diese Busse mit Fernsehsesselsitzgröße fahren für wenig Geld alle größeren oder auch kleineren Städte Taiwans im 10 bis 30 Minuten Takt an.
Insgesamt alles besonders schön für so Menschen wie mich, die nicht so gerne ewig lange im Voraus planen.
Neben Bequemlichkeit zeichnet sich Taiwan für mich aber auch durch eine Sache aus, die ich nur immer wieder betonen kann: Die Taiwanesen. Wer den Laternenfestbericht gelesen hat, weiß, wie geduldig sie sind (wenn sie nicht gerade ein motorisiertes Gefährt unter dem Hintern haben). Viele Menschen hier strahlen fröhliche Ruhe aus, neben geduldig sind sie hilfsbereit und freundlich und häufig entwaffnend ehrlich. Sehen Taiwanesen einen Ausländer wie mich, sind sie meist besonders hilfsbereit. Manchmal werde ich dafür zwar nicht ganz für voll genommen, aber selbst das kann bisweilen entspannend sein.
So viel zu meiner Liebeserklärung :)
Pünktlich zur Halbzeit hat mir Taipei im Übrigen noch das herbeigezaubert, was mir bisher zu meinem Glück hier fehlte: auf meinem Nachhauseweg von der Uni hat ein neues Geschäft aufgemacht: Oma Ursels deutsche Bäckerei. Mit echtem Brot. Brötchen. Brezeln. Laugenwecken (!). Berlinern. Apfelstrudel. Das war ein Gelage, sage ich euch!
A propos bequem und nicht so gerne planen: Diese Woche hatte ich meine Abschlusspräsentation für dieses Quartal. Meine eine Woche Semesterferien wollte ich eigentlich mit Bergsteigen und Wandern verbringen. Leider habe ich am Donnerstag aber erfahren, dass der Nationalpark, in den wir wollten, aufgrund von Schneefall bis auf weiteres komplett abgesperrt ist. Nach erstem Frust haben wir uns gestern jedoch schnell umorientiert… und so fliege ich NACHHER mit einem Kommilitonen für den Preis einer Bahnfahrt von Freiburg nach Hamburg für eine Woche nach KOREA. Ich brauche wohl kaum erwähnen, dass ich unglaublich aufgeregt bin? Und werde natürlich berichten!
Da ich gleich zum Flughafen muss, breche ich an dieser Stelle ab und schicke liebe Grüße nach Deutschland und in die Welt!
Dass man im Übrigen aufpassen sollte, was man sich wünscht, hat eine meiner Mitstudentinnen im letzten Jahr erfahren müssen. Zusammen mit einigen ihrer Kollegen hatte sie sich gewünscht, dass auch endlich mal ein Taifun in den Süden Taiwans kommen solle. Schließlich solle nicht immer nur der Norden Taifun-frei bekommen. Der letztjährige Taifun Morakot war allerdings dann doch etwas viel…
Nun bin ich wieder allein hier in Taipei, und meine beiden Besucher müssen sich wieder an deutsche Temperaturen gewöhnen. Viele Grüße an dieser Stelle – es war schön mit euch!
Kerstin
Am Rande 2, ausnahmsweise: Taiwan hält einen traurigen Rekord: es ist momentan das Land mit der weltweit niedrigsten Geburtenrate. Vielleicht sollte sich das Land von seinen Nachbarn inspirieren lassen? Das südkoreanische Gesundheitsministerium beispielsweise hat eine geniale Maßnahme ins Leben gerufen, um der ebenfalls extrem niedrigen Geburtenrate im Lande entgegenzusteuern: Einmal im Monat werden Mittwoch Abend um 19.00 alle Lichter im Ministerium ausgeschaltet, um Angestellte dazu zu bringen, früh (schon um sieben…) nach Hause zu gehen und sich fortzupflanzen. Kein Witz.
Während ich das hier schreibe, sitze ich in meinem kleinen Zimmer in den Subtropen und trage unter anderem zwei Paar Wollsocken, einen Schal, zwei Pullover, eine wattierte Jacke und eine Steppdecke. Pünktlich zum Ferienbeginn vor einer Woche sind die Temperaturen hier auf Dezemberniveau zurück gefallen und Petrus hat alles, was er an Wolken und Wasser aufbieten kann, gerecht über der ganzen Insel verteilt.
Trotzdem habe ich eine sehr schöne, erholsame und vor allem abwechslungsreiche Woche verbracht. Nach einer ausgedehnten Geburtstags- und Juchuh-wir-haben-endlich-frei-Party mit vielen Mitlernern bzw. Mitleidenden am Freitag Abend bin ich Samstag früh mit dem Fernbus in den Süden Taiwans gefahren um dort das Neujahrsfest mit meiner Gastfamilie zu feiern. Wie auch bei uns werden die Feiertage in Taiwan vor allem mit Essen, Geschenken und Fernsehen verbracht – und mit Zocken. Zocken? Neben den allgegenwärtigen Computerspielen werden hier zum Neujahrsfest (und in den meisten Familien ausschließlich zu dieser Zeit) die Mahjongspielsteine herausgeholt – und die Geschenke gleich dazu. An Geschenken wechseln hier zum Neujahr nämlich weder Socken noch Krawatten den Besitzer, sondern ausschließlich rote Umschläge. Diese enthalten Geldscheine, die beim Mahjongspielen sehr nützlich sind, denn gespielt wird um Geld – und mit Pfennigbeträgen fängt man selbsverständlich gar nicht erst an. Wer im Übrigen wem wann einen solchen roten Umschlag zu schenken hat und welche Anzahl an Scheinen darin enthalten sein darf oder muss (Zahlen können schließlich sehr viel Glück oder eben auch Pech mit sich bringen) ist ein Forschungsgebiet für sich. Selbst wenn ich das System völlig durchschaut hätte, würde das Erläutern desselben den Rahmen dieses Blogs wohl sprengen. Statt langer Erklärungen lieber eine kurze…
Momentaufnahme: Nach einem ausgedehnten und reichhaltigen chinesischen Fondue (Hotpot) sitzt die Familie am „Sylvester“abend gemeinsam im Wohnzimmer der Großeltern, das vor allem von jahrzehntelanger Sammelbegeisterung geprägt ist. Eine ganze Seite des engen Raums wird vom Familienaltar eingenommen, der an diesem Abend vor lauter Opfergaben noch bunter ist als sonst. Der Geruch von Essen und Weihrauch dringt in jeden Winkel. Auf dem großen Flachbildfernseher tanzt und singt Lady Gaga, halbnackt. Oma, Mutter und zwei der Enkel spielen Mahjong, so einiges an Geld wechselt zum zweiten Mal an diesem Abend den Besitzer. Die Schreie der Spieler werden zunehmend spitzer. Ein anderer Enkel spielt am Computer neben dem Fernseher Counterstrike, laute Schüsse, Stöhnen und Seufzer weben sich in den Klangteppich ein. Der kleinste, 16-Monate alte, Enkel wankt in einem T-Shirt mit der Aufschrift Baby Doll durch den Raum, er übt mit vor Begeisterung offenem Mund seinen Hüftschwung. Seine Eltern haben ihm ein Handy um den Körper gebunden, das sein momentanes Lieblingslied (ihr ahnt es schon…) Sorry Sorry Sorry in Endlosschleife spielt. Der Rest der Familie sitzt auf Sesseln und dem Boden und versucht, in ihren Gesprächen alles andere zu übertönen.
DAS also ist die wahre Bedeutung von renao.
So sehr ich das Neujahrsfest im Kreise meiner Gastfamilie genossen habe – und renao beinhaltet die Konnotation fröhlich und herzerwärmend – so froh war ich dann auch, am Montag Mittag wieder aufzubrechen. Auf der Suche nach ein paar Tagen absolutem Kontrastprogramm zu Taipeis Hektik und Lärm war ich ganz im Südosten Taiwans fündig geworden. Dort fand mitten in der Wildnis eine Art Hippie-Zeltlager im Kleinen statt. Ich hatte einige der Organisatoren zufällig in Taipei kennen gelernt und beschlossen, dass ihr Kreis genau das Richtige war, um meine wenigen freien Tage zu füllen. Zelten im Grünen, nette Leute, das Meer, die Sonne… was kann man sich sonst noch wünschen? Mit letzterer hat es zwar leider nicht so recht geklappt: die Sonne schien im sonst so sonnigen Süden bis zu dem Tag, an dem ich ankam - und ab dem Tag, an dem ich wieder in Taipei war. Der Rest meiner Rechnung ist allerdings aufgegangen. Schwimmen im Pazifik (wenn auch aufgrund stürmischen Wellengangs jeweils mit drei Aufpassern und potentiellen Lebensrettern am Ufer), sehr nette und spannende Menschen (ohne wenn auch) und sogar mehr Wildnis, als ich erwartet hatte. Wir haben inmitten von Bäumen und Gebüsch gezeltet, das von keinen menschlichen, sondern nur von Pfaden halbwilder Wasserbüffel durchzogen war. Mit Macheten und Äxten haben wir uns kleine, von Menschen begehbare Pfade in das dornenbewehrte Gestrüpp geschlagen und unsere Zelte auf einer von Bäumen beschützten und von weichen Kiefernnadeln bedeckten Lichtung unweit vom Meer aufgeschlagen. Taipei war dort unglaublich fern.
Die Entfernung von Lärm und Zivilisation hat so einiges an Anreise- und Findemühseligkeit mit sich gebracht, war es aber mehr als wert. Für die geradezu lächerliche Entfernung von 169 km vom Haus meiner Gastfamilie bis zu unserer Lichtung habe ich über 8 Stunden gebraucht. Mit dem Auto, mit diversen Bussen und Taxis und zuletzt bei Nacht zu Fuß durch besagtes Gestrüpp. Auf dem Weg und auf der Suche habe ich sehr viele hilfsbereite Menschen kennen gelernt, zu guter letzt beispielsweise einen sehr galanten Kanadier, der seine ebenfalls zeltenden Freunde lange alleine gelassen hat um sicherzustellen, dass ich auf dem langen Weg durchs dunkle Gestrüpp nicht von einem Wasserbüffel gefressen werde.
Momentaufnahme: Es regnet. Wir sind jedoch vorbereitet und haben eine riesige Plane zwischen ein paar Bäumen aufgespannt. Zu schicksalhaften neun – der nächstgelegene Ort heißt Jiupeng, was so klingt wie neun Freunde auf Chinesisch und fast so geschrieben wird – sitzen wir unter unserer Plane um ein kleines Feuer herum. Unsere Bäuche sind warm von über dem offenen Feuer gekochten Gemüseeintopf und süßem Chrysanthementee. Es wird gegen den Regen angetrommelt, geflötet, Gitarre gespielt und gesungen. Zwischendurch ist Raum für mehr als ein anregendes Gespräch. An diesem Abend haben neun sehr verschiedene Freunde den Weg ins Wasserbüffelland gefunden. Im Alter zwischen Anfang 20 und Anfang 50, kommen sie aus Taiwan, Polen, England, Amerika, einer ist gar auf einem Segelboot aufgewachsen. In der Stadt sind sie Englischlehrer oder Berufshippies, einer ist Tänzer, dem modernen Tanz verschrieben, einer Journalist, einer Soziologie-Doktorand, einer ist Musiker und Kinderliedautor, ein anderer Hochschuldozent und Betelnussspezialist. Hier ist das alles jedoch nicht so wichtig, hier zählt der Rhythmus, den man trommeln kann, die Geschichten, die man erzählen kann. Plötzlich schreit einer, es ist der Tänzer, er springt auf, zieht sich die Hose aus und tanzt in Unterhose um das Feuer. Er schreit irgendetwas von riesigen Insekten, von Kakerlaken. Einer nach dem anderen beginnt zu lachen – der arme Junge, der Jüngste im Kreis, hat wohl zu viel getrunken? Verzweifelt schüttelt der Tänzer seine weite Sporthose. Der Übeltäter kommt nur widerwillig zum Vorschein: es ist nicht der Alkohol, sondern ein handgroßer Krebs der sich vom nahe gelegenen Strand an unser wärmendes Feuer verirrt hat – nicht alleine, wie sich im Laufe des langen Abends herausstellen wird. Die Musik nimmt wieder ihren Lauf. Ja der Krebs will heute tanzen, durch den Sand und durch die Nacht…
Während im Süden also seit Samstag wieder die Sonne scheint, bin ich seit Freitagabend wieder in der großen Stadt und habe das Wochenende eher unmusikalisch im kalten Regen Taipeis mit dem Abtragen von Hausaufgabenbergen zugebracht.
Liebe Grüße und noch einmal ein erfolgreiches Jahr des Tigers an euch alle!
Kerstin
PS Am Donnerstag bekomme ich wieder Besuch aus Deutschland (Juchuh!) - höchstwahrscheinlich wird also eine Weile Funkstille herrschen.
Eine Woche voller Prüfungen geht zu Ende und ich bin fix und fertig – und glücklich, weil ich nun eine ganze Woche frei bekomme. Am morgigen Samstag ist nämlich der letzte Tag des chinesischen Mondjahres, am Sonntag beginnt das Jahr des Tigers. Da das chinesische Neujahr in seiner gesellschaftlichen Bedeutung ungefähr unserem Weihnachtsfest entspricht, muss in der nächsten Woche niemand arbeiten - oder lernen. Soweit es nur irgend geht, fährt jeder Taiwanese (oder auch Chinese) in dieser Zeit zu seiner Familie. Man sagt, Taipei verliere in dieser Woche über die Hälfte seiner Einwohner, so gut wie alle Läden haben geschlossen. Diese Geisterstadt werde ich allerdings nicht erleben, da ich morgen früh mit 1,5 Millionen anderen nomadierenden Hauptstädtern gemeinsam per Bus Richtung Süden aufbrechen werde. Ich werde die Feiertage wie es sich gehört mit meiner (Gast)familie in Tainan bzw. zum Teil mit den (Gast)großeltern in Pingdong verbringen. Selbstverständlich werde ich berichten! Und: Ich freue mich schon auf den Stau.
Das kommende Neujahr kündigt sich schon seit Wochen unübersehbar an. Es ist ein bisschen wie Adventszeit – und doch wieder ganz anders. Einige Läden haben Lichterketten aufgehängt, die ganze Stadt ist von einem roten Teppich Glück ausdünstender Dekoration überzogen. An allen Ecken prangen Fische, Drachen, Tiger und verschiedenste Schriftzeichen, die das Glück in all seinen Variationen herbeirufen. In den Restaurants gibt es besonderes Essen, an den Straßenständen besonderes Gebäck und in den Supermärkten stapeln sich die überdimensionalen Geschenkkartons voll besonderer Leckereien. Vorfreude liegt in der Luft. Die Menschen sind ausgelassener, noch freundlicher als sonst.
Und doch ist es ganz anders als die Vorweihnachtszeit... Besinnlichkeit ist kein sehr chinesisches Konzept. Mein bevorzugtes Online-Lexikon, das nach eigenen Angaben inzwischen „145096 chinesische Einträge“ enthält, kennt nicht einmal eine Übersetzung für diesen Begriff. Feiertage haben hier renao zu sein, was so viel heißt wie laut und lebendig.
Dementsprechend verhält sich auch die chinesische Version eines Weihnachtsmarktes. Nach Abschluss meiner letzten Prüfungen am Donnerstag bin ich mit einem ganzen Haufen Kommilitonen zu einer der ältesten Straßen Taipeis gefahren. In dieser werden traditionelle chinesische Medizin sowie verschiedenste Leckereien verkauft. Auch zu normalen Zeiten schon ziemlich belebt, wird die Dihua Straße in den Wochen vor dem chinesischen Neujahr zu einem Getümmel, das jeden Weihnachtsmarkt übertrifft. Zusätzlich zu den schon vorhandenen Läden drängt sich nun Stand an Stand. Marktschreier mit Megafonen in der Hand erheben sich aus dem Menschenmeer empor, indem sie mitten in der engen Gasse Leitern aufstellen. Verkaufsassistenten in Kostümen aller Art versuchen Passanten mit schmeichelnden Worten oder auch handfesten Gesten zu bestimmten Ständen zu treiben, strandgutgleich bleibt einem nichts anderes, als sich von der Menge mitspülen zu lassen. Links getrocknete Tintenfische, rechts gigantische Säcke voll Haselnuss und Mandelkern, ein Stückchen weiter links taiwanesischer Oolong Tee, rechts riesige Bottiche mit echt deutschen Gummi-Süßigkeiten. Alles was an Ess- oder Trinkbarem angeboten wird, kann man vor dem Kauf auch probieren, ein unablässiger Reizfluss also nicht nur für Augen und Ohren, sondern auch für die Zunge.
Das Jahr des Tigers also. Die 12 chinesischen Tierkreiszeichen haben hier immer noch eine relativ große Bedeutung. Nicht nur in privaten Liebesangelegenheiten, auch bei der Besetzung wichtiger Stellen werden die Tierkreiszeichen mit berücksichtigt. Anscheinend korreliert selbst die Geburtenrate Taiwans mit den 12 Patenwesen. So steigt die extrem niedrige Geburtenrate Formosas zur Freude hiesiger Politiker wenigstens in den Jahren, die Glück verheißenden Tieren zugeordnet sind. Wer möchte schließlich nicht einen starken kleinen Drachen oder ein glückliches kleines Schwein als Kind haben? In diesem Jahr allerdings dürfte diese Rate, zumindest wenn meine Lehrerin Recht behalten sollte, noch tiefer als sonst sinken. Tiger gelten zwar als starke, aber auch sehr eigensinnige Wesen. Ein Tiger zu sein, bringt viele Unannehmlichkeiten mit sich. Weil der Geist des Tigers so stark ist, dass er schwache Wesen verletzen kann, ist er bei Anfängen aller Art ungern gesehen. Tiger dürfen an Hochzeiten wenn überhaupt nur am Rande teilnehmen. In die Nähe des Brautpaars oder gar in deren Zimmer dürfen sie auf keinen Fall. Am (Wochen-)bett frisch gebackener Mütter haben sie ebenfalls nichts zu suchen. Bevor man sich also so einen kleinen Tiger ins Haus holt, wartet man doch lieber noch ein paar Monate mit dem Kinderkriegen.
Mein Jahr beginnt jedenfalls trotz Tiger schon einmal unter guten Vorzeichen, bzw. mit gutem Karma. Letzten Sonntagnachmittag war ich in einem Park in meinem Viertel um mit allerlei mir anfangs fremder Menschen, zum größten Teil wohl als Hippies zu bezeichnen, gemeinsam zu essen, zu reden, zu singen. Nach einem Nachmittag voll anregender Gespräche mit Menschen aller Nationen, Altersgruppen und Lebensläufe hat mich einer meiner neuen Bekannten gleich zu einem Meditationskurs mitgenommen, an dem er Sonntagabends regelmäßig teilnimmt. Bevor es mit der Meditation losging, haben alle Teilnehmer gemeinsam Tee getrunken. Weil alles andere sehr unhöflich gewesen wäre, habe ich mit der jungen taiwanesischen Frau, die neben mir auf dem Boden saß, ein Gespräch angefangen. Kurz darauf haben wir die meditative Atmosphäre zerrissen, mit Schreien, wie sie wohl nur Mädchen hervorbringen können. Der Grund? Spring, wie sie auf Englisch heißt, hat mehrere Jahre in London mit der Tochter guter Freunde meiner Eltern in einer WG zusammen gewohnt. Weil diese Tochter sehr nett ist, hatte sie, als ich einsam nach Taipei kam, den Kontakt zwischen Spring und mir hergestellt. Seit Monaten hatten wir uns immer mal wieder geschrieben, uns gegenseitig zu unseren Partys eingeladen, aber wie das nun mal gerne so ist, hatte das mit einem Treffen nie geklappt. Bis wir an diesem Sonntagabend unter den nicht ganz 3 Millionen Einwohnern Taipeis unerwartet zueinander fanden. Nicht nur unsere, sondern auch die Freude aller Umsitzenden war groß, gemeinsam stießen wir mit Pu-Erh-Tee auf unsere gute Karma-Verbindung an.
Ein frohes Neues bzw. xinnian kuaile und ebenfalls gutes Karma euch allen!
Kerstin
Sowohl ich als auch der Mahjong-Spielstein im Tigerlook wünschen euch ein gutes neues (chinesisches) Jahr!
Am Rande: Wo wir heute beim Thema Rot sind: alle in den 80ern Geborenen gehören hier der Erdbeergeneration an. Das hat nichts mit Tier- oder etwaigen Obstkreiszeichen zu tun, die Erdbeere gehört in die Reihe Golf, X und Praktikum. Weder aufgrund unseres ansprechenden Äußeren noch unseres süßen Inneren werden wir jedoch so genannt… Erdbeeren kommen bekannterweise häufig aus geschützten Gewächshäusern und dellen schon beim kleinsten Druck ein. Hmpf.
Zum ersten Mal seit einigen Jahren bin ich plötzlich wieder die Deutsche. Meine Freunde hier sind größtenteils Amerikaner, dazu ein paar Taiwanesen und ein, zwei Europäer. Was ich anziehe, was ich esse, was ich sage, was ich tue – alles wird zu einer Repräsentation der Deutschen. Deutsche ziehen sich eleganter an als Amerikaner und bodenständiger als Taiwanesen. Deutsche essen gesünder sowohl als Amerikaner als auch Taiwanesen. Deutsche sind pünktlich, zuverlässig und fleißig. Deutsche mögen Ironie. Deutsche trinken gerne Bier. Deutsche sind höflicher und zurückhaltender als Amerikaner und direkter und offener als Asiaten: ich bin ein wandelndes Stereotyp.
Manchmal ist es anstrengend, für 80 Millionen andere zu stehen, welch eine Verantwortung. Es kann allerdings auch befreiend sein, wenn persönliche Eigenheiten plötzlich der nationalen Identität zugeschrieben werden. Dadurch wird vieles ungefragt akzeptiert: naja, so sind sie halt, die Deutschen.
Ich bin hier nicht nur German, sondern gleich crazy German. Besonders Amerikaner scheinen der Meinung zu sein, dass Germans vor allem durch dieses eine Adjektiv zu beschreiben sind. Selbst dieses Vorurteil schaffe ich, zu erfüllen, was zugegebenermaßen auch nicht besonders schwierig ist. Als der ICLP Karaoke-Kurs eines Freitagabends endlich einmal gemeinsam in einen echten Karaoke-Club gegangen ist um das Geübte anzuwenden, habe ich alle Vorurteile bestätigt. Ich habe a. (ein?) Bier getrunken und war b. dafür zuständig, die Biere aller anderen Biertrinker zu öffnen, weil mangels Flaschenöffner kein anderer dazu in der Lage war. Die crazy German, die Bierflaschen ua mit Essstäbchen öffnet, hat alle schwer beeindruckt. Auch die Geschichte von dem crazy German alcohol, die ich einem Mitstudenten zu seinem 21. Geburtstag geschenkt habe, hat schon die Runde gemacht (ein 0,02L Fläschchen Schwarzwälder Kirschwasser…).
Rückzug in das Boot nationale Identität im stürmischen Meer der Kontingenzen... da kann ich mich in Deutschland noch so sehr als Europäer oder Weltbürger fühlen, und doch brauche ich hier in der Fremde anscheinend eine geistige Form von Heimat – und sei sie noch so schwammig definiert.
Wisst ihr, was ich in Sachen Heimat im Moment am meisten vermisse? Von Menschen abgesehen, meine ich. Nein, es sind weder Brezeln noch Kartoffelgerichte… und noch nicht einmal der sonnengereifte badische Wein. Es ist der Schwarzwald und die Rheinebene. Also sogar so etwas wie konkrete „Heimat“. Vor kurzem war ich hier im größten Park der Stadt joggen, wie meistens unter bewölktem Himmel, von Autolärm und Menschen umgeben. An einem Ende des Parks gibt es eine kleine Inlineskatefläche. Wie eine Eisbahn nur eben ohne Eis. Ich stand dort ein Weilchen und schaute den Kindern beim Fahren zu. Dabei spürte ich nicht nur mein Herz, sondern meinen ganzen Körper schwer werden. Wie viele Sonntage habe ich damit verbracht, stundenlang unter der Freiburger Sonne mit meinen Inlineskates durch die Gegend zu fahren? Einfach aus der Haustür raus, an der Dreisam entlang und darüber hinaus, je nach Laune Richtung Schwarzwald oder Richtung Rheinebene und Frankreich. Durch Felder, Wälder, Wiesen und Dörfer, einfach so, kilometerweit, bis ich entweder keine Lust oder Luft mehr hatte. Diese Bilder und das damit verbundene Gefühl von Freiheit in meinem Kopf passten so gar nicht zu der kleinen, von Menschen überfüllten Betonfläche vor meinen Augen.
Heute, Samstag, habe ich den Nachmittag und Abend in einem meiner Lieblings-Cafés zugebracht, um a. dem Regen und b. meinem kleinen Zimmer zu entfliehen während ich mich auf meine Midterm-Prüfungen nächste Woche vorbereite. Da das Konzept Café aus Europa importiert ist, ist auch dieses Café wie die meisten hier sehr europäisch anmutend. In gepolsterten Ledersesseln an Holztischen mit grünen Glaslampen darauf, umgeben von Regalen voller Bücher, Jazz und Klassik im Hintergrund, lässt es sich sich im La Bohème gut lernen. Und auch wenn die Bücher in diesem Café auf Chinesisch sind, sind es die meisten Autoren nicht: von Durkheim über Kundera bis zu Abhandlungen über das Genre Schwulenfilm im 20. Jh ist alles dabei, was man scheinbar als moderner Intellektueller so zu lesen hat. Eine Heimweh verdrängende Oase? Zumindest bis die Bedienung fragt, ob ich meinen Cappuccino warm oder kalt möchte.
Liebe Grüße aus Taipei!
Kerstin
PS. Na klar, Deutsche sind gerne draußen in der freien Natur. Und gerne alleine.
PPS. Taipei gefällt mir trotz allem immer noch sehr gut.
Heute mal ein Sonntagsroman… der Lesbarkeit halber in Häppchen aufgeteilt
Schwarzer Himmel
Letzte Woche hatten wir 3 GANZE TAGE SONNE – hintereinander! Ich bin hin und weg und möchte daher diese Gelegenheit nutzen, um euch kurz meinen Campus vorzustellen. Im Sonnenlicht sieht alles erstens gleich dreimal so gut aus – und zweitens kann ich so beim Bilder aussuchen selbst ein wenig in guten Erinnerungen schwelgen. Die Sonne hat sich nämlich inzwischen schon wieder tief verschleiert.
Die National Taiwan University, die immerhin schon 82 Jahre auf dem Buckel hat, hat verschiedene Campuse – laut Wikipedia machen diese insgesamt ca 1% des ganzen Landes aus (und das, obwohl es neben der Taida noch eine unüberschaubare Anzahl anderer Unis gibt). Ich studiere auf dem Hauptcampus mitten in Taipei. Es ist eine Art grüne Insel mitten in der Stadt, voll palmengesäumter Alleen mit unzähligen Radfahrern, dazu Teiche und Pavillons. Ein beliebtes Naherholungsziel der Städter.
Schwarze Zukunftsaussichten
A propos Uni. Dass das taiwanesische Bildungssystem sehr auf Tests fixiert ist, mag ich schon mal erwähnt haben. Es gibt ständige Prüfungen: Wochenprüfungen, Monatsprüfungen, Halbsemesterprüfungen, Semesterendprüfungen. Ein Grundschüler lernt des Weiteren monatelang für die Eingangsprüfung zur Mittelschule, ein Mittelschulschüler für die Eingangsprüfung zur Highschool und ein Highschooler für den großen Universitätseingangstest. Da die Tests jeweils eine unglaubliche Menge an (auswendig gelerntem) Wissen erfordern, aber jeweils die Qualität der nachfolgenden Schule und damit den weiteren Werdegang des Lernenden bestimmen, hat man hier bis man 18 (und hoffentlich auf der Uni) ist kein Leben in unserem Sinn. Selbst das Fach, das man an der Uni studiert, wird häufig von Testergebnissen und nicht von eigenen Interessen bestimmt. So sind auch meine Lehrerinnen zumindest teilweise dem Sprachenstudium zugeteilt worden. Eine Lehrerin erzählte mir, wie froh sie sei, nicht in BWL gelandet zu sein – sie sei eine Matheniete. Mit chinesischer Linguistik dagegen habe sie sich anfreunden können. Diejenige, die so gute Ergebnisse haben, dass sie sich tatsächlich ein Fach aussuchen können, haben dann noch das zweite Problem, dass oft die Eltern den Bewerbungsbogen für die Kinder ausfüllen – und die Wünsche der zukünftigen Studenten da nicht immer eine große Rolle spielen. Dementsprechend motiviert sind hier auch viele Studenten...
Jedenfalls: Nicht nur um an eine bestimmte Schule zu dürfen, auch um einen bestimmten Arbeitsplatz zu bekommen muss man zunächst die dazugehörige Prüfung bestehen. Gestern aber haben es die Taiwanesen mal wieder geschafft, mich zu überraschen. Es ging im Unterricht darum, dass es in Taiwan inzwischen viel zu viele gut ausgebildete Menschen und zu wenig Arbeit für diese gibt. Viele Master-Absolventen und sogar Inhaber eines Doktortitels arbeiten daher in einfachen Jobs. Besonders beliebt sei unter anderem der Job des Müllmanns, weil das immerhin eine Stelle im öffentlichen Dienst mit regelmäßigem Verdienst und sozialer Absicherung sei. Leider aber würden nicht alle Doktoren die Eingangsprüfung zum Müllmannberuf schaffen. Dazu gehöre unter anderem, mit einem 20kg Sack in den Armen mehrfach hin- und her zu rennen.
Schwarze Menschen I
Dass Taiwanesen extrem rassistisch sind, habe ich schon mehrfach seit ich hier bin, erfahren müssen. Auch wenn sie etwas seltener als bei den Festlandchinesen auf der anderen Seite der Taiwanstraße aufkommen, die Themen Blut, Rasse und Volk sind hier gängige Begriffe und beliebte Gesprächsthemen. Immer wieder erzählen mir beispielsweise Taxifahrer, wie gut es sei, dass ich einer der „guten“ weißen und nicht der „schlechten“ arabischstämmigen – oder noch viel schlimmer richtig „schwarzen“ Ausländer sei. Gut, Taxifahrer sind ja so eine Sache. Letzte Woche allerdings hatten wir eine Diskussion über Rassismus im Unterricht – wo es mal wieder eine Lehrerin geschafft hat, mir allen Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie selbst sei ganz und gar nicht rassistisch. Sie habe zwar eine Phobie, aber das sei schließlich etwas vollkommen anderes. Wie sich diese Phobie äußere? Als sie zum Beispiel in die USA geflogen sei, wo sie immerhin ein Jahr verbracht hat, habe sie vor dem Flug vor Angst nicht schlafen können. Angst hatte sie allerdings nicht vor einem Flugzeugabsturz, sondern davor, dass sich ein dunkelhäutiger Mensch im Flugzeug neben sie setzen könnte und sie für Stunden neben diesem gefangen sei. Sie habe nämlich unglaubliche Angst davor, einen solchen Menschen aus Versehen zu berühren – aus Angst, dieser färbe ab und ihre Haut werde dadurch automatisch ebenfalls dunkler. Vielleicht ist es fairerweise auch eher eine Art Naivität als echter Rassismus – wobei ich nicht wüsste, wo genau die Grenze zwischen beiden zu ziehen ist. Ein dunkelhäutiger Englischlehrer hier erzählte von einem Pärchen, dass ihn beim Kaffeetrinken in einem Café nicht nur unablässig angestarrt habe – sondern als er gegangen sei sofort seinen Platz genauestens untersucht habe, ob seine Haut nicht vielleicht doch irgendwo Spuren verlassen habe.
Schwarze Menschen II
Als Gegenbild zum Schirmbild im letzten Eintrag sollen die obigen beiden Bilder dienen. Mit der Sonne verschwinden nämlich die Schirme nicht – im Gegenteil. Helle Haut ist absolutes Schönheitsideal. Dunkel geht wie gerade schon beschrieben gar nicht. Schirme mit UV-Beschichtung sind da das mindeste – im Sommer wickelt sich manch eine Dame hier zusätzlich in lange Kleidung inklusive Handschuhe ein – und das bei schwülheißen subtropischen Zuständen. Manch eine schlingt sich gar einen Schal übers Gesicht. Im Supermarkt habe ich häufig große Probleme, eine Hautcreme zu finden, die KEINE Bleichungsmittel enthält.
Schwarze Musik
In den letzten Beiträgen habe ich euch ja schon einen kleinen Einblick gegeben in die Musik, die hier gerade angesagt ist. Gottseidank gibt es neben weichgespültem koreanischen und Mando-Pop auch noch anderes. Taipei hat sogar eine relativ lebendige Musikszene. Eine Band vom ganz anderen Ende des Spektrums ist beispielsweise Chthonic. Chthonic ist nicht nur die bekannteste Metal-, sondern sogar Black-Metalband Taiwans. In ihren Texten geht es statt um die in Europa übliche christlich-heidnisch-satanistische Thematik um die Götter und Helden der taiwanesischen Gesichte. Wenn Chthonic nicht gerade auf einer der verschiedenen taiwanesischen Ureinwohnersprachen, auf Taiwanesisch oder auf Englisch singen, singen sie gerne auf klassischem Chinesisch – das ist ein bisschen so, als würde man bei uns auf Latein singen. Außerdem benutzen sie eine Erhu, ein traditionell chinesisches Saiteninstrument. Politisch stehen sie für die Unabhängigkeit Taiwans, weswegen ihre Musik anscheinend auch in weiten Teilen Chinas verboten ist.
Woher mein plötzliches Interesse an Metal? Ist eine etwas längere Geschichte…
Vor einer Woche am Sonntag Abend fand hier ein Konzert einer finnischen Metalband (Ensiferum) mit einer taiwanesischen Band (nicht Chthonic) als Vorband statt. Eigentlich wollte ich mit meiner Mitbewohnerin hingehen, bin dann aber doch zu Hause geblieben, um, brave Studentin die ich nun mal (leider?) bin, meine Übersetzung aus dem klassischen Chinesisch ins moderne und einen Aufsatz über Einwanderungspolitik zu vollenden. Habe ich danach ziemlich bereut… Nicht nur, dass das Konzert wohl sehr spaßig war, sondern mir ist dadurch auch so einiges an sehr interessanten Gesprächen entgangen.
Mitten in der Nacht wurde ich nämlich von einem Anruf Karens, meiner amerikanischen Mitbewohnerin, aus dem Schlaf gerissen. Sie hieß mich und Theresa, meine taiwanesische Mitbewohnerin, sofort aufstehen und sie in einer Bar in der Nähe aufsuchen. Sie hänge gerade mit lauter Metalern rum, es sei unglaublich toll und wir könnten uns diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen. Meine erste Reaktion war: du hast wohl zu viel getrunken – ich schlafe! Nach dem Auflegen habe ich allerdings feststellen müssen, dass ich plötzlich hellwach war. Also habe ich Theresa, die noch wach war, aufgesucht und nach ein paar Minuten Diskussion (Sie: Karen hat so was noch nie gemacht, das muss was Besonderes sein. Ich: Sollen wir vielleicht hingehen? Sie: Ich gehe nicht, aber du solltest unbedingt gehen! Ich: Ich gehe nicht ohne dich! Etc) haben wir unsere Schlafanzüge gegen die am schnellsten greifbare Kleidung getauscht und sind auf zur Bar. Dort saß Karen mit Ensiferum und Chthonic, die 2007 mit Ensiferum auf Europatournee waren und nun die Finnen in Taipei herumführten. Beide Bands haben im Übrigen schon in Wacken gespielt (nb: falls jemand den Film Full Metal Village nicht kennen sollte: unbedingt anschauen!). Fragt nicht, Karen kann so was einfach. Leider ist Chthonic dann ziemlich bald gegangen, so dass ich nicht besonders viel mit ihnen reden konnte. Dafür dann umso länger mit den Finnen. An sich Klischee-Metaler, wie man sie sich kaum besser ausdenken könnte. Aber, natürlich, harte Schale… Wir saßen bis morgens früh erst in der Kneipe, dann mit der halben Band in unserem Wohnzimmer. So kam es, dass ich mitten in Taipei bis zum Morgengrauen mit einem finnischen Metal-Schlagzeug-Veteranen über das Leben philosophierte… mehr als spannend.
À la prochaine!
Kerstin
Am Rande: Schwarze Arbeit Gestern hat mir eine Englisch-Lehrerin für Kindergartenkinder von Fluchtübungen erzählt, die sie regelmäßig absolviere. Vom Dach des Kindergartens aufs Nachbardach. Von dort aufs nächste Dach, runter in den dortigen Innenhof, über drei Zäune hinweg auf die Straße. Ein ausgefeilter Erdbebenschutzplan? Angst vor bewaffneten Überfällen? Vor rabiaten Eltern? Schlichte Kinderphobie? Weit gefehlt. Es ist die Angst vor der Polizei, die sie und ihre Kollegen treibt. Englisch schon im Kindergartenalter zu unterrichten, ist hier nämlich seit einiger Zeit illegal. Weil Studien anscheinend gezeigt haben, dass ein solches Treiben wenig bringt, die Kinder sogar eher überfordert. Da die Eltern Taiwans sich da aber nicht ganz so sicher sind, wird hier trotzdem in jedem Kindergarten Englisch unterrichtet. Nur dass eben immer mal wieder die Polizei auf eine kleine Razzia vorbeikommt. Wird man dort als Ausländer beim Englisch Unterrichten erwischt, kann man sofort des Landes verwiesen werden. Also eben ausgeklügelte Fluchtpläne. Oder ausgefeilte Ausreden. Andere Lehrer haben mir von solch genialen Maßnahmen wie vorsichtshalber in der Ecke gestapelten Pizzakartons (ich bin nur der Pizzalieferant, ehrlich!) erzählt. Wie letzteres funktionieren soll ist mir allerdings schleierhaft – wenn 30 Vierjährige daneben stehen und teacher, teacher rufen...