Zum ersten Mal seit einigen Jahren bin ich plötzlich wieder die Deutsche. Meine Freunde hier sind größtenteils Amerikaner, dazu ein paar Taiwanesen und ein, zwei Europäer. Was ich anziehe, was ich esse, was ich sage, was ich tue – alles wird zu einer Repräsentation der Deutschen. Deutsche ziehen sich eleganter an als Amerikaner und bodenständiger als Taiwanesen. Deutsche essen gesünder sowohl als Amerikaner als auch Taiwanesen. Deutsche sind pünktlich, zuverlässig und fleißig. Deutsche mögen Ironie. Deutsche trinken gerne Bier. Deutsche sind höflicher und zurückhaltender als Amerikaner und direkter und offener als Asiaten: ich bin ein wandelndes Stereotyp.
Manchmal ist es anstrengend, für 80 Millionen andere zu stehen, welch eine Verantwortung. Es kann allerdings auch befreiend sein, wenn persönliche Eigenheiten plötzlich der nationalen Identität zugeschrieben werden. Dadurch wird vieles ungefragt akzeptiert: naja, so sind sie halt, die Deutschen.
Es ist allerdings keineswegs nur so, dass andere mich durch eine schwarz-rot-gold gefärbte Brille hindurch betrachten. Vielmehr bemerke ich an mir selbst Tendenzen, mich in die Deutschen-Schablone hineinzuquetschen. Immer wieder bestärke ich selbst die Vorurteile (of course (I'm on time / like cake...), I’m German). So trinke ich beispielsweise hier häufiger Bier als in Deutschland – was zwar auch an der Mädchenbierhaftigkeit der hiesigen Marken liegen mag, aber eben auch daran, dass man das als Deutsche(r) so macht. Es wird von mir hier nicht anders erwartet und in einer seltsam verqueren Logik gibt es mir ein Zugehörigkeit Gefühl zu EUCH, die ihr das hier liest, derartige Erwartung zu erfüllen. Es grenzt mich ab von puritanischen Amerikanern wie alkoholunverträglichen Taiwanesen. Das Biertrinken soll an dieser Stelle selbstverständlich nur als besonders anschauliches Beispiel dienen, der beschriebene Prozess lässt sich auf alles mögliche andere übertragen.
Ich bin hier nicht nur German, sondern gleich crazy German. Besonders Amerikaner scheinen der Meinung zu sein, dass Germans vor allem durch dieses eine Adjektiv zu beschreiben sind. Selbst dieses Vorurteil schaffe ich, zu erfüllen, was zugegebenermaßen auch nicht besonders schwierig ist. Als der ICLP Karaoke-Kurs eines Freitagabends endlich einmal gemeinsam in einen echten Karaoke-Club gegangen ist um das Geübte anzuwenden, habe ich alle Vorurteile bestätigt. Ich habe a. (ein?) Bier getrunken und war b. dafür zuständig, die Biere aller anderen Biertrinker zu öffnen, weil mangels Flaschenöffner kein anderer dazu in der Lage war. Die crazy German, die Bierflaschen ua mit Essstäbchen öffnet, hat alle schwer beeindruckt. Auch die Geschichte von dem crazy German alcohol, die ich einem Mitstudenten zu seinem 21. Geburtstag geschenkt habe, hat schon die Runde gemacht (ein 0,02L Fläschchen Schwarzwälder Kirschwasser…).
Rückzug in das Boot nationale Identität im stürmischen Meer der Kontingenzen... da kann ich mich in Deutschland noch so sehr als Europäer oder Weltbürger fühlen, und doch brauche ich hier in der Fremde anscheinend eine geistige Form von Heimat – und sei sie noch so schwammig definiert.
Wisst ihr, was ich in Sachen Heimat im Moment am meisten vermisse? Von Menschen abgesehen, meine ich. Nein, es sind weder Brezeln noch Kartoffelgerichte… und noch nicht einmal der sonnengereifte badische Wein. Es ist der Schwarzwald und die Rheinebene. Also sogar so etwas wie konkrete „Heimat“. Vor kurzem war ich hier im größten Park der Stadt joggen, wie meistens unter bewölktem Himmel, von Autolärm und Menschen umgeben. An einem Ende des Parks gibt es eine kleine Inlineskatefläche. Wie eine Eisbahn nur eben ohne Eis. Ich stand dort ein Weilchen und schaute den Kindern beim Fahren zu. Dabei spürte ich nicht nur mein Herz, sondern meinen ganzen Körper schwer werden. Wie viele Sonntage habe ich damit verbracht, stundenlang unter der Freiburger Sonne mit meinen Inlineskates durch die Gegend zu fahren? Einfach aus der Haustür raus, an der Dreisam entlang und darüber hinaus, je nach Laune Richtung Schwarzwald oder Richtung Rheinebene und Frankreich. Durch Felder, Wälder, Wiesen und Dörfer, einfach so, kilometerweit, bis ich entweder keine Lust oder Luft mehr hatte. Diese Bilder und das damit verbundene Gefühl von Freiheit in meinem Kopf passten so gar nicht zu der kleinen, von Menschen überfüllten Betonfläche vor meinen Augen.
Um fair zu sein: auch in Taipei gibt es nicht nur einen, sondern gleich mehrere Flüsse. Auch an diesen führen Radwege entlang, die zumindest streckenweise für eine Großstadt auch anständig von grün umgeben sind. Aber die großen Freeways sind nie fern und vor allem am Wochenende die anderen Ausflügler auch nicht. Um mich ein wenig von meinem Skate-Entzug abzulenken, bin ich letzten Samstag mehrere Stunden lang alleine am Danshui-Fluss entlang gefahren. Oder eben ganz und gar nicht alleine. Das Radfahren in Kolonne hat es nicht geschafft, mir meine Sehnsucht zu nehmen.
Heute, Samstag, habe ich den Nachmittag und Abend in einem meiner Lieblings-Cafés zugebracht, um a. dem Regen und b. meinem kleinen Zimmer zu entfliehen während ich mich auf meine Midterm-Prüfungen nächste Woche vorbereite. Da das Konzept Café aus Europa importiert ist, ist auch dieses Café wie die meisten hier sehr europäisch anmutend. In gepolsterten Ledersesseln an Holztischen mit grünen Glaslampen darauf, umgeben von Regalen voller Bücher, Jazz und Klassik im Hintergrund, lässt es sich sich im La Bohème gut lernen. Und auch wenn die Bücher in diesem Café auf Chinesisch sind, sind es die meisten Autoren nicht: von Durkheim über Kundera bis zu Abhandlungen über das Genre Schwulenfilm im 20. Jh ist alles dabei, was man scheinbar als moderner Intellektueller so zu lesen hat. Eine Heimweh verdrängende Oase? Zumindest bis die Bedienung fragt, ob ich meinen Cappuccino warm oder kalt möchte.
Liebe Grüße aus Taipei!
Kerstin
PS. Na klar, Deutsche sind gerne draußen in der freien Natur. Und gerne alleine.
PPS. Taipei gefällt mir trotz allem immer noch sehr gut.
Am Rande: Die Taipei Times, große englischsprachige Tageszeitung, bringt uns täglich neben der Wettervorhersage auch die aktuelle lunar prophesy – also das, was laut chinesischem Mondkalender an diesem Tag unter einem oder keinem besonders guten Stern steht. Da steht dann zum Beispiel: Today is a good day for: Cutting cloth for a bride’s dress, bathing, oder: Today is a bad day for: removing mourning clothes, all auspicious activities. Neulich standen wir eines montagmorgens im Aufenthaltsraum der Uni und erfuhren die Tagesagenda: Today is a good day for: putting people in coffins.
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