Eine Woche voller Prüfungen geht zu Ende und ich bin fix und fertig – und glücklich, weil ich nun eine ganze Woche frei bekomme. Am morgigen Samstag ist nämlich der letzte Tag des chinesischen Mondjahres, am Sonntag beginnt das Jahr des Tigers. Da das chinesische Neujahr in seiner gesellschaftlichen Bedeutung ungefähr unserem Weihnachtsfest entspricht, muss in der nächsten Woche niemand arbeiten - oder lernen. Soweit es nur irgend geht, fährt jeder Taiwanese (oder auch Chinese) in dieser Zeit zu seiner Familie. Man sagt, Taipei verliere in dieser Woche über die Hälfte seiner Einwohner, so gut wie alle Läden haben geschlossen. Diese Geisterstadt werde ich allerdings nicht erleben, da ich morgen früh mit 1,5 Millionen anderen nomadierenden Hauptstädtern gemeinsam per Bus Richtung Süden aufbrechen werde. Ich werde die Feiertage wie es sich gehört mit meiner (Gast)familie in Tainan bzw. zum Teil mit den (Gast)großeltern in Pingdong verbringen. Selbstverständlich werde ich berichten! Und: Ich freue mich schon auf den Stau.
Das kommende Neujahr kündigt sich schon seit Wochen unübersehbar an. Es ist ein bisschen wie Adventszeit – und doch wieder ganz anders. Einige Läden haben Lichterketten aufgehängt, die ganze Stadt ist von einem roten Teppich Glück ausdünstender Dekoration überzogen. An allen Ecken prangen Fische, Drachen, Tiger und verschiedenste Schriftzeichen, die das Glück in all seinen Variationen herbeirufen. In den Restaurants gibt es besonderes Essen, an den Straßenständen besonderes Gebäck und in den Supermärkten stapeln sich die überdimensionalen Geschenkkartons voll besonderer Leckereien. Vorfreude liegt in der Luft. Die Menschen sind ausgelassener, noch freundlicher als sonst.
Und doch ist es ganz anders als die Vorweihnachtszeit... Besinnlichkeit ist kein sehr chinesisches Konzept. Mein bevorzugtes Online-Lexikon, das nach eigenen Angaben inzwischen „145096 chinesische Einträge“ enthält, kennt nicht einmal eine Übersetzung für diesen Begriff. Feiertage haben hier renao zu sein, was so viel heißt wie laut und lebendig.
Dementsprechend verhält sich auch die chinesische Version eines Weihnachtsmarktes. Nach Abschluss meiner letzten Prüfungen am Donnerstag bin ich mit einem ganzen Haufen Kommilitonen zu einer der ältesten Straßen Taipeis gefahren. In dieser werden traditionelle chinesische Medizin sowie verschiedenste Leckereien verkauft. Auch zu normalen Zeiten schon ziemlich belebt, wird die Dihua Straße in den Wochen vor dem chinesischen Neujahr zu einem Getümmel, das jeden Weihnachtsmarkt übertrifft. Zusätzlich zu den schon vorhandenen Läden drängt sich nun Stand an Stand. Marktschreier mit Megafonen in der Hand erheben sich aus dem Menschenmeer empor, indem sie mitten in der engen Gasse Leitern aufstellen. Verkaufsassistenten in Kostümen aller Art versuchen Passanten mit schmeichelnden Worten oder auch handfesten Gesten zu bestimmten Ständen zu treiben, strandgutgleich bleibt einem nichts anderes, als sich von der Menge mitspülen zu lassen. Links getrocknete Tintenfische, rechts gigantische Säcke voll Haselnuss und Mandelkern, ein Stückchen weiter links taiwanesischer Oolong Tee, rechts riesige Bottiche mit echt deutschen Gummi-Süßigkeiten. Alles was an Ess- oder Trinkbarem angeboten wird, kann man vor dem Kauf auch probieren, ein unablässiger Reizfluss also nicht nur für Augen und Ohren, sondern auch für die Zunge.
Das Jahr des Tigers also. Die 12 chinesischen Tierkreiszeichen haben hier immer noch eine relativ große Bedeutung. Nicht nur in privaten Liebesangelegenheiten, auch bei der Besetzung wichtiger Stellen werden die Tierkreiszeichen mit berücksichtigt. Anscheinend korreliert selbst die Geburtenrate Taiwans mit den 12 Patenwesen. So steigt die extrem niedrige Geburtenrate Formosas zur Freude hiesiger Politiker wenigstens in den Jahren, die Glück verheißenden Tieren zugeordnet sind. Wer möchte schließlich nicht einen starken kleinen Drachen oder ein glückliches kleines Schwein als Kind haben? In diesem Jahr allerdings dürfte diese Rate, zumindest wenn meine Lehrerin Recht behalten sollte, noch tiefer als sonst sinken. Tiger gelten zwar als starke, aber auch sehr eigensinnige Wesen. Ein Tiger zu sein, bringt viele Unannehmlichkeiten mit sich. Weil der Geist des Tigers so stark ist, dass er schwache Wesen verletzen kann, ist er bei Anfängen aller Art ungern gesehen. Tiger dürfen an Hochzeiten wenn überhaupt nur am Rande teilnehmen. In die Nähe des Brautpaars oder gar in deren Zimmer dürfen sie auf keinen Fall. Am (Wochen-)bett frisch gebackener Mütter haben sie ebenfalls nichts zu suchen. Bevor man sich also so einen kleinen Tiger ins Haus holt, wartet man doch lieber noch ein paar Monate mit dem Kinderkriegen.
Mein Jahr beginnt jedenfalls trotz Tiger schon einmal unter guten Vorzeichen, bzw. mit gutem Karma. Letzten Sonntagnachmittag war ich in einem Park in meinem Viertel um mit allerlei mir anfangs fremder Menschen, zum größten Teil wohl als Hippies zu bezeichnen, gemeinsam zu essen, zu reden, zu singen. Nach einem Nachmittag voll anregender Gespräche mit Menschen aller Nationen, Altersgruppen und Lebensläufe hat mich einer meiner neuen Bekannten gleich zu einem Meditationskurs mitgenommen, an dem er Sonntagabends regelmäßig teilnimmt. Bevor es mit der Meditation losging, haben alle Teilnehmer gemeinsam Tee getrunken. Weil alles andere sehr unhöflich gewesen wäre, habe ich mit der jungen taiwanesischen Frau, die neben mir auf dem Boden saß, ein Gespräch angefangen. Kurz darauf haben wir die meditative Atmosphäre zerrissen, mit Schreien, wie sie wohl nur Mädchen hervorbringen können. Der Grund? Spring, wie sie auf Englisch heißt, hat mehrere Jahre in London mit der Tochter guter Freunde meiner Eltern in einer WG zusammen gewohnt. Weil diese Tochter sehr nett ist, hatte sie, als ich einsam nach Taipei kam, den Kontakt zwischen Spring und mir hergestellt. Seit Monaten hatten wir uns immer mal wieder geschrieben, uns gegenseitig zu unseren Partys eingeladen, aber wie das nun mal gerne so ist, hatte das mit einem Treffen nie geklappt. Bis wir an diesem Sonntagabend unter den nicht ganz 3 Millionen Einwohnern Taipeis unerwartet zueinander fanden. Nicht nur unsere, sondern auch die Freude aller Umsitzenden war groß, gemeinsam stießen wir mit Pu-Erh-Tee auf unsere gute Karma-Verbindung an.
Ein frohes Neues bzw. xinnian kuaile und ebenfalls gutes Karma euch allen!
Kerstin
Am Rande: Wo wir heute beim Thema Rot sind: alle in den 80ern Geborenen gehören hier der Erdbeergeneration an. Das hat nichts mit Tier- oder etwaigen Obstkreiszeichen zu tun, die Erdbeere gehört in die Reihe Golf, X und Praktikum. Weder aufgrund unseres ansprechenden Äußeren noch unseres süßen Inneren werden wir jedoch so genannt… Erdbeeren kommen bekannterweise häufig aus geschützten Gewächshäusern und dellen schon beim kleinsten Druck ein. Hmpf.
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