Während ich das hier schreibe, sitze ich in meinem kleinen Zimmer in den Subtropen und trage unter anderem zwei Paar Wollsocken, einen Schal, zwei Pullover, eine wattierte Jacke und eine Steppdecke. Pünktlich zum Ferienbeginn vor einer Woche sind die Temperaturen hier auf Dezemberniveau zurück gefallen und Petrus hat alles, was er an Wolken und Wasser aufbieten kann, gerecht über der ganzen Insel verteilt.
Trotzdem habe ich eine sehr schöne, erholsame und vor allem abwechslungsreiche Woche verbracht. Nach einer ausgedehnten Geburtstags- und Juchuh-wir-haben-endlich-frei-Party mit vielen Mitlernern bzw. Mitleidenden am Freitag Abend bin ich Samstag früh mit dem Fernbus in den Süden Taiwans gefahren um dort das Neujahrsfest mit meiner Gastfamilie zu feiern. Wie auch bei uns werden die Feiertage in Taiwan vor allem mit Essen, Geschenken und Fernsehen verbracht – und mit Zocken. Zocken? Neben den allgegenwärtigen Computerspielen werden hier zum Neujahrsfest (und in den meisten Familien ausschließlich zu dieser Zeit) die Mahjongspielsteine herausgeholt – und die Geschenke gleich dazu. An Geschenken wechseln hier zum Neujahr nämlich weder Socken noch Krawatten den Besitzer, sondern ausschließlich rote Umschläge. Diese enthalten Geldscheine, die beim Mahjongspielen sehr nützlich sind, denn gespielt wird um Geld – und mit Pfennigbeträgen fängt man selbsverständlich gar nicht erst an. Wer im Übrigen wem wann einen solchen roten Umschlag zu schenken hat und welche Anzahl an Scheinen darin enthalten sein darf oder muss (Zahlen können schließlich sehr viel Glück oder eben auch Pech mit sich bringen) ist ein Forschungsgebiet für sich. Selbst wenn ich das System völlig durchschaut hätte, würde das Erläutern desselben den Rahmen dieses Blogs wohl sprengen. Statt langer Erklärungen lieber eine kurze…
Momentaufnahme: Nach einem ausgedehnten und reichhaltigen chinesischen Fondue (Hotpot) sitzt die Familie am „Sylvester“abend gemeinsam im Wohnzimmer der Großeltern, das vor allem von jahrzehntelanger Sammelbegeisterung geprägt ist. Eine ganze Seite des engen Raums wird vom Familienaltar eingenommen, der an diesem Abend vor lauter Opfergaben noch bunter ist als sonst. Der Geruch von Essen und Weihrauch dringt in jeden Winkel. Auf dem großen Flachbildfernseher tanzt und singt Lady Gaga, halbnackt. Oma, Mutter und zwei der Enkel spielen Mahjong, so einiges an Geld wechselt zum zweiten Mal an diesem Abend den Besitzer. Die Schreie der Spieler werden zunehmend spitzer. Ein anderer Enkel spielt am Computer neben dem Fernseher Counterstrike, laute Schüsse, Stöhnen und Seufzer weben sich in den Klangteppich ein. Der kleinste, 16-Monate alte, Enkel wankt in einem T-Shirt mit der Aufschrift Baby Doll durch den Raum, er übt mit vor Begeisterung offenem Mund seinen Hüftschwung. Seine Eltern haben ihm ein Handy um den Körper gebunden, das sein momentanes Lieblingslied (ihr ahnt es schon…) Sorry Sorry Sorry in Endlosschleife spielt. Der Rest der Familie sitzt auf Sesseln und dem Boden und versucht, in ihren Gesprächen alles andere zu übertönen.
DAS also ist die wahre Bedeutung von renao.
So sehr ich das Neujahrsfest im Kreise meiner Gastfamilie genossen habe – und renao beinhaltet die Konnotation fröhlich und herzerwärmend – so froh war ich dann auch, am Montag Mittag wieder aufzubrechen. Auf der Suche nach ein paar Tagen absolutem Kontrastprogramm zu Taipeis Hektik und Lärm war ich ganz im Südosten Taiwans fündig geworden. Dort fand mitten in der Wildnis eine Art Hippie-Zeltlager im Kleinen statt. Ich hatte einige der Organisatoren zufällig in Taipei kennen gelernt und beschlossen, dass ihr Kreis genau das Richtige war, um meine wenigen freien Tage zu füllen. Zelten im Grünen, nette Leute, das Meer, die Sonne… was kann man sich sonst noch wünschen? Mit letzterer hat es zwar leider nicht so recht geklappt: die Sonne schien im sonst so sonnigen Süden bis zu dem Tag, an dem ich ankam - und ab dem Tag, an dem ich wieder in Taipei war. Der Rest meiner Rechnung ist allerdings aufgegangen. Schwimmen im Pazifik (wenn auch aufgrund stürmischen Wellengangs jeweils mit drei Aufpassern und potentiellen Lebensrettern am Ufer), sehr nette und spannende Menschen (ohne wenn auch) und sogar mehr Wildnis, als ich erwartet hatte. Wir haben inmitten von Bäumen und Gebüsch gezeltet, das von keinen menschlichen, sondern nur von Pfaden halbwilder Wasserbüffel durchzogen war. Mit Macheten und Äxten haben wir uns kleine, von Menschen begehbare Pfade in das dornenbewehrte Gestrüpp geschlagen und unsere Zelte auf einer von Bäumen beschützten und von weichen Kiefernnadeln bedeckten Lichtung unweit vom Meer aufgeschlagen. Taipei war dort unglaublich fern.
Die Entfernung von Lärm und Zivilisation hat so einiges an Anreise- und Findemühseligkeit mit sich gebracht, war es aber mehr als wert. Für die geradezu lächerliche Entfernung von 169 km vom Haus meiner Gastfamilie bis zu unserer Lichtung habe ich über 8 Stunden gebraucht. Mit dem Auto, mit diversen Bussen und Taxis und zuletzt bei Nacht zu Fuß durch besagtes Gestrüpp. Auf dem Weg und auf der Suche habe ich sehr viele hilfsbereite Menschen kennen gelernt, zu guter letzt beispielsweise einen sehr galanten Kanadier, der seine ebenfalls zeltenden Freunde lange alleine gelassen hat um sicherzustellen, dass ich auf dem langen Weg durchs dunkle Gestrüpp nicht von einem Wasserbüffel gefressen werde.
Momentaufnahme: Es regnet. Wir sind jedoch vorbereitet und haben eine riesige Plane zwischen ein paar Bäumen aufgespannt. Zu schicksalhaften neun – der nächstgelegene Ort heißt Jiupeng, was so klingt wie neun Freunde auf Chinesisch und fast so geschrieben wird – sitzen wir unter unserer Plane um ein kleines Feuer herum. Unsere Bäuche sind warm von über dem offenen Feuer gekochten Gemüseeintopf und süßem Chrysanthementee. Es wird gegen den Regen angetrommelt, geflötet, Gitarre gespielt und gesungen. Zwischendurch ist Raum für mehr als ein anregendes Gespräch. An diesem Abend haben neun sehr verschiedene Freunde den Weg ins Wasserbüffelland gefunden. Im Alter zwischen Anfang 20 und Anfang 50, kommen sie aus Taiwan, Polen, England, Amerika, einer ist gar auf einem Segelboot aufgewachsen. In der Stadt sind sie Englischlehrer oder Berufshippies, einer ist Tänzer, dem modernen Tanz verschrieben, einer Journalist, einer Soziologie-Doktorand, einer ist Musiker und Kinderliedautor, ein anderer Hochschuldozent und Betelnussspezialist. Hier ist das alles jedoch nicht so wichtig, hier zählt der Rhythmus, den man trommeln kann, die Geschichten, die man erzählen kann. Plötzlich schreit einer, es ist der Tänzer, er springt auf, zieht sich die Hose aus und tanzt in Unterhose um das Feuer. Er schreit irgendetwas von riesigen Insekten, von Kakerlaken. Einer nach dem anderen beginnt zu lachen – der arme Junge, der Jüngste im Kreis, hat wohl zu viel getrunken? Verzweifelt schüttelt der Tänzer seine weite Sporthose. Der Übeltäter kommt nur widerwillig zum Vorschein: es ist nicht der Alkohol, sondern ein handgroßer Krebs der sich vom nahe gelegenen Strand an unser wärmendes Feuer verirrt hat – nicht alleine, wie sich im Laufe des langen Abends herausstellen wird. Die Musik nimmt wieder ihren Lauf. Ja der Krebs will heute tanzen, durch den Sand und durch die Nacht…
Während im Süden also seit Samstag wieder die Sonne scheint, bin ich seit Freitagabend wieder in der großen Stadt und habe das Wochenende eher unmusikalisch im kalten Regen Taipeis mit dem Abtragen von Hausaufgabenbergen zugebracht.
Liebe Grüße und noch einmal ein erfolgreiches Jahr des Tigers an euch alle!
Kerstin
PS Am Donnerstag bekomme ich wieder Besuch aus Deutschland (Juchuh!) - höchstwahrscheinlich wird also eine Weile Funkstille herrschen.
Am Rande: Die schon einmal erwähnte Tageszeitung
Taipei Times hat augenscheinlich eine Vorliebe für Fotos südkoreanischer Soldaten beim Training. Mal springen sie in der Gruppe händchenhaltend ins eisige Meer, mal tanzen sie auf dem Schlachtschiff zu
sorry sorry sorry (kein Witz!). Immer aber sehen sie dabei sehr gut aus - und immer haben die Bilder absolut nichts mit den sie umgebenden Artikeln zu tun...
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