Es ist, als hätte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben so richtig geprügelt. Ich habe eine dicke, sich langsam blau verfärbende Lippe, schmerzende Zähne und eine Nase, die auf Berührungen ungnädig reagiert. Mein Nacken ist steif und schmerzt ebenfalls. Auch der Beginn dieses Zustands hatte ein wenig was von Boxring. Zumindest so, wie ich mir diesen vorstelle. Ich wachte aus einem tiefen Traum auf, weil mich jemand an der Schulter schüttelte. Ziemlich verwirrt stellte ich fest, dass ich auf dem Boden lag, über mir grelles Licht sowie an die 20 Menschen, die um mich herum standen und mich mit großen Augen anstarrten. Im Gesicht hatte ich ein blutiges Tuch. Und ja, da war auch irgendwas von Boxen…
Allerdings nur Schattenboxen, was mit ersterem herzlich wenig zu tun hat. Mitten in meinem Tai-Chi-Kurs bin ich ohnmächtig geworden und platsch – mit dem Gesicht voran auf den Holzboden geknallt… Welcher Schatten auch immer mir diesen Schlag versetzt hat, er hat unfair gekämpft, denn der Kampf war noch nicht angepfiffen. Wir waren gerade mal bei der ersten Aufwärm- bzw. Entspannungsübung angekommen. Ich kann euch beruhigen – mir geht es gut und ich war natürlich auch beim Arzt, der nichts Schwerwiegendes feststellen konnte und insgesamt nicht besonders beunruhigt schien. Daher werde ich das Ganze einfach als Gelegenheit ansehen, euch zu erzählen, wie es so in einem taiwanesischen Krankenhaus zugeht.
Montagmorgen bin ich mit dem Taxi ins Uni-Krankenhaus der Taida gefahren. Dort reihten wir uns in eine lange Reihe anderer Taxis ein, die einer nach dem anderen ihre Fahrgäste abluden. In der hohen und laut hallenden weil menschenüberfüllten Empfangshalle kam ich mir ziemlich verloren vor... bis ich eine Leuchtboje im Menschenmeer entdeckte. In vielen öffentlichen Institutionen in Taipei arbeiten freiwillige Helfer, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als verwirrten Menschen den Weg zu weisen. Diese Helfer tragen meist neongelbe Verkehrswesten und sind daher schon von weitem zu erkennen. So eine Helferin führte mich also durch die ersten Schritte. Als erstes, wie wohl überall auf der Welt, musste ein Formular ausgefüllt werden. Kontaktdaten, Vorgeschichte, Einverständniserklärung in die Behandlung etc. Des Weiteren bekam ich die Regeln des Krankenhauses ausgehändigt. Alle Patienten werden gleich behandelt, ich muss für die Kosten meiner Behandlung aufkommen, meine Daten sind sicher… und von unangebrachten Verhaltensweisen ist abzusehen. „Such improper behaviors include smoking, eating betel nuts and consuming / possessing durian fruits.” Letztere riechen so stark, dass sie den eh schon geschwächten Patienten wohl nicht zuzumuten sind.
Als nächstes: Nummer ziehen für den Anmeldeschalter. Warten. Anmelden. Für welche der 24 Abteilungen denn? Ich schildere meine Umstände. Neurologie also. Da sind heute Vormittag keine Termine mehr frei, kommen sie einfach heute Nachmittag wieder. Ich erkläre, dass es mir nicht besonders gut gehe, ob es nicht vielleicht in einer anderen Abteilung…? Na gut, sie kann mir in der Chirurgie einen Termin geben. Die können Sie auch behandeln. Ich bekomme eine neue Nummer, diesmal für die Chirurgie. Praxis Nr. 13 in der Chirurgie Abteilung. Nach längerem Durchfragen finde ich den richtigen Ort. Über der Tür prangt, wie über fast allen Türen an denen ich vorbei gekommen bin, eine Digitalanzeige mit roten Zahlen wie im Amt. Ich nehme auf einem der davorstehenden Plastiktühle inmitten vieler anderer Wartenden Platz und... warte. Und warte. Insgesamt über vier Stunden lang. Endlich ist meine Nummer an der Reihe und ich darf das Arztzimmer betreten. Arzt und Krankenschwester sind nett, wir unterhalten uns fröhlich auf Chinglisch. Sie untersuchen mich, soweit alles in Ordnung. Zur Sicherheit bekomme ich eine Überweisung für weitere Untersuchungen.
Zunächst aber muss ich zur Rechnungsabteilung und die Rechnung, die mir der Arzt gegeben hat, sofort begleichen. Eine Nummer ziehen. Warten. An einem von sehr vielen Schaltern bezahlen. Da ich Mitglied der staatlichen Gesundheitskasse bin, muss ich nur einen Zuschuss von etwas weniger als 10 Euro bezahlen. Zum Glück habe ich keine Medikamente verschrieben bekommen, sonst müsste ich zur Apothekenabteilung, eine Nummer ziehen und… So aber kann ich direkt weiter in die Kardiologie. Zum Glück finde ich wieder eine freiwillige Helferin, die mir nicht nur den Weg weist, sondern mir auch zeigt, in welchen Schlitz ich meine Anmeldung zum EKG einwerfen muss und wo ich warten kann, bis ich dran bin. Hier ist die Wartezeit zum Glück nicht so lang und auch die Untersuchung selbst ist in einem Augenblick vorbei. Danach geht’s weiter zur Blutabnahmestation. Nummer ziehen. Warten. Hier reiht sich ein Schalter neben den anderen, über jedem die obligatorische Digitalanzeige, auf jedem Tisch neben diversen medizinischen Utensilien jeweils ein schwarzes Plastikkissen zum Armauflegen. Hier sitzen bald 20 Arzthelferinnen nebeneinander, die scheinbar den ganzen Tag nichts anderes machen als Blutabnehmen. Dementsprechend schnell geht das Ganze dann auch, wenn man erst mal dran ist. An der Wand hängt ein riesiges Schild, dass alle Patienten darauf hinweist, dass sie auch wirklich 5 Minuten lang auf die Einstichwunde drücken sollen. Ein bisschen froh, dass ich keine Urinprobe oder ähnliches abgeben muss, bin ich an dieser Stelle schon. Dann darf ich auch schon, einen halben Tag später, wieder nach Hause. Nächste und übernächste Woche werden vorsorglich noch Hals und Hirn untersucht, da darf ich mich also noch mal ins Getümmel stürzen.
Dieselbe Art der effizienten Betriebsamkeit herrscht übrigens im Gesundheitsamt (wo ich meinen Versicherungsausweis beantragen musste). Zum Glück gibt es auch dort die „gelben Engel“. In einem von vielen, vielen ähnlichen Räumen reihen sich vierzig (!) Schalter aneinander, die eigentlich auch keine Schalter sind, sondern nur Abschnitte eines extrem langen Tisches mit Digitalanzeigen drüber. Dahinter die vorwiegend weiblichen Angestellten, alle in Uniform, alle mit Mundschutz, der den größten Teil ihres Gesichts verdeckt. Trotz aller augenscheinlicher Anonymität - so was wie Privatsphäre ist da nicht – links von mir wurde die Arbeitslosigkeit des Sohnes, rechts von mir die chronische Krankheit der Antragsstellerin verhandelt…
Liebe Grüße und bis bald (und macht euch keine Sorgen, mir geht es gut)!
Kerstin
Am Rande: Mein neuer Lieblingsbegriff aus einem Aufsatz zur Frauenbewegung: Yi bei shui zhu yi, wörtlich übersetzt: ein-Becher-Wasser-ismus. Kritischer (und hochsprachlicher!) Terminus, der übertragen heißt: Wenn die Beziehungen zwischen Männlein und Weiblein sich so gestalten wie beim Wassertrinken, sprich: man jedes Mal zum Durstlöschen einen anderen Becher benutzt.
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