Laufe ich die Tage durch Taipei, ist der Geruch von Weihrauch allgegenwärtig. An jeder Ecke steht jemand an einer brennenden Metalltonne und verbrennt eine Handvoll Papiergeld nach der anderen. Auf jedem noch so kleinen Hausaltar drinnen in den Wohnzimmern sowie auf jedem noch so improvisiertem Altartisch draußen auf dem Gehweg türmen sich Berge von Obst. Abends ist es erst besonders laut, weil Festmahle mit lautstarker musikalischer Begleitung in den Gassen stattfinden, danach jedoch gespenstisch leise. Es sind weniger Menschen auf den Straßen als sonst, Fenster und Türen sind verschlossen.
Wir befinden uns zur Zeit mitten im siebten Monat des chinesischen Mondkalenders. Der siebte Monat aber ist ein besonderer: es ist der so genannte Geistermonat. In diesem Monat werden die Tore zwischen Geister- und Menschenwelt einen Spalt geöffnet – und die Geister können einen Monat lang im Reich der Lebenden verweilen. Geister sind hier wie auch bei uns unzufriedene Seelen Verstorbener. Manchmal sind Geister die Seelen gewaltvoll zu Tode gekommener Menschen, die an den Ort ihres Todes zurückkehren. Meistens aber sind Seelen hier deswegen unzufriedene Seelen, weil sie nur wenige oder sogar gar keine Angehörige haben, die sie ehren oder ihnen traditionelle Opfergaben bringen. Daher werden diesen Monat Opfergaben nicht nur an die eigenen Vorfahren oder an die eigenen Lieblingsgötter gerichtet, sondern auch an umherziehende und hungrige Seelen ohne Nachfahren – von denen es hier scheinbar eine ganze Menge gibt.
Die meisten Menschen, mit denen ich hier über Geister gesprochen haben, haben ein sehr pragmatisches Verhältnis zu diesen. Wer weiß schon sicher, ob es sie gibt (wobei fast jeder hier auch die ein oder andere selbsterlebte oder zumindest selbstgehörte Geschichte dazu erzählen kann), aber man ist lieber mal auf der sicheren Seite. Schon Konfuzius sagte:
„Ehre die Götter als gäbe es sie.“ Und so werden die vielen hungrigen Geister in diesem Monat mit Unmengen an Obst und Keksen zufrieden und milde gestimmt. Für weitere Bedürfnisse der Verstorbenen dient Feuer als direkter Postweg in die Unterwelt. Meistens wird der Einfachkeit halber auf diesem Wege Geistergeld zu den Ahnen gesandt, manchmal sind es aber auch papierene Häuser, Autos und was man sonst noch so alles für ein bequemes Leben im Jenseits benötigt. Im Geistermonat werden wie auch mit dem Essen neben den eigenen Ahnen auch die heimatlosen Seelen bedacht. Ich glaube, in den größeren Städten ist das aus Umwelt- und Gesundheitsschutzgründen inzwischen illegal, aber so richtig scheint das niemanden zu interessieren. Und das, obwohl die Regierung sich wirklich sehr bemüht, Alternativen zu bieten. Viele Bürger Taipeis nutzen beispielsweise inzwischen das Angebot, ihr Geistergeld in den staatlichen Müllverbrennungsanlagen verbrennen zu lassen – einige tausend Tonnen Geld werden so in jedem Geistermonat von der Müllabfuhr eingesammelt und zentral verbrannt. Andere Bürger nutzen einen besonders umweltfreundlichen Dienst der Stadt: die Online-Geistergeld-Verbrennung. Andere vorgeschlagene Ideen, wie eine Geistkreditkarte oder Geisterschecks, finden meines Wissens dagegen bisher wenig Beifall.
Für ganz andere Bedürfnisse der „
guten Brüder“, wie die Geister auch genannt werden um diese nicht zu beleidigen, wird auch gesorgt. Im restlichen Jahr laufen gerne einmal DVDs in einem ansonsten leeren Tempel, als Entertainment für die guten Brüder. Im Geistermonat muss das allerdings überboten werden - mit Liveshows, die neben Moderation und Musik häufig auch Stripshows enthalten. Geister sind scheinbar auch nur (männliche?) Menschen. Meine Nachbarschaft hat vor ein paar Tagen anlässlich des Geistermonats ein riesiges traditionelles Fest draußen in den Gassen veranstaltet. Pudu, „universelle Erlösung“, nennt sich das. Alle Götter der umliegenden kleinen Tempel und Hausaltare wurden nachmittags zusammengetragen und gemeinsam angebetet, abends gab es dann ein riesiges Bankett. Ein Festmahl zu Ehren der Geister, zugleich auch ein Fest für die ganze Nachbarschaft, die ganze Familie. Viele runde Tische bedeckt mit glücksbringenden roten Tischdecken drängten sich in den engen Gassen, darauf glücksbringendes rosa Pappgeschirr. Auf einer großen Bühne mit blinkender Neondekoration wurde abwechselnd mikrofonverstärkt gesungen, Musikvideo mäßig getanzt sowie versucht, Geld für das Fest und für die Geister aufzutreiben. Eine der Sängerinnen trug dabei durchgehend nicht mehr als einen Hauch von Glitzerbikini. Anderswo, habe ich mir sagen lassen, werde auch gestrippt oder an der Stange getanzt.
So fröhlich diese Feiern auch sein mögen, mit den Geistern ist nicht zu spaßen. Auch wenn sie einen Monat Ausgang haben und daher fröhlich sein könnten, sind sie eben im Grunde doch unzufriedene Seelen, die den Lebenden nicht unbedingt das Beste wünschen. Man behandelt die Geister also respektvoll, versucht ansonsten aber, möglichst weit von ihnen entfernt zu bleiben. Das heißt, man vermeidet im siebten Monat am besten alle Aktivitäten, die Geister anziehen könnten (bis auf Opfergaben natürlich), sowie alle Orte, an denen sich Geister gerne aufhalten. Aus diesem Grund ist es ziemlich dumm, in dieser Zeit im Dunkeln zu pfeifen – oder überhaupt im Dunkeln unterwegs zu sein, besonders nach Mitternacht und besonders alleine. Sollte man das doch einmal unvorsichtigerweise tun, sollte man niemals den Kopf wenden, wenn der eigene Name von hinten gerufen wird! Wäsche sollte man auf keinen Fall übernacht draußen auf der Leine lassen – da diese gerne von Geistern für ihre Verwandtschaft gehalten und freudig begrüßt wird. Unwissende ausländische Freunde von mir sind deswegen schon von der Nachbarschaft gerügt worden. Berggipfel und vor allem Wasser sind in dieser Zeit besonders gefährliche Orte. Wie bereits erwähnt, kehren gewaltsam umgekommene Seelen im Geistermonat an den Ort ihres Todes zurück – und scheinbar sind in Taiwan bisher besonders viele Menschen ertrunken. Diese Ertrunkenen haben jeweils diesen einen Monat Zeit, an den schicksalhaften Fluss oder See zurückzukehren und Ersatz für sich selbst zu finden… erst dann sind sie erlöst und sind nicht mehr verlorene Seelen. Die taiwanesische Urangst vor Wasser ist in dieser Zeit daher noch einmal um ein Vielfaches gesteigert.
Alles, wozu man Glück benötigt, unterlässt man in diesem Monat am besten, vielleicht weil man nie wissen kann, wann ein unglücksbringender Geist zufällig vorbeischaut. Das heißt, Hochzeiten, Umzüge, Geschäftseröffnungen, Operationen und so weiter verschiebt man soweit irgend möglich in den nächsten Monat.
Ich persönlich bin passenderweise in diesem Monat einen persönlichen "Geist" losgeworden, der mich nunmehr ein ganzes Jahr geplagt hat, der mich vom Schlafen abgehalten und mein Leben und Denken vollkommen bestimmt hat. Noch bin ich mir im Unklaren darüber, ob die Erleichterung darüber größer ist oder die Wehmut. Eine große Leere lässt er jedenfalls zurück, dieser Geist, dieses formlose Wesen namens ICLP. Ich habe zudem ein wenig Angst, dass er das Chinesisch in meinem Hirn mit sich genommen hat... aber das wird sich zeigen müssen.
Liebe Grüße aus Taipei!
Kerstin
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